Winter 2011/12 | Ein Konzept - Eine Erkenntnis - Eine Liebe | Teil 1
oder: 750km bis zum Schnee
Dieser Bericht ist keine Bildersammlung, er ist eine Geschichte über die Skisaison eines viel zu weit entfernt von den Alpen lebenden Bergliebhabers und darüber, wie das Alpinforum ein Skifahrerleben grundlegend verändert hat. Er ist eine Hommage an eine großartige Internetseite, an die Menschen hinter den Pseudonymen die dies alles hier mit Leben füllen und nicht zuletzt an eine der großartigsten Sportarten der Welt.
Inhaltsverzeichnis
- Prolog
- Ein Konzept (11.11.-18.11.2011)
- Zermatt
- Kaunertal
- Pitztal
- Stubaital
- Gurgl – First Contact
Teil 2
- Eine Erkenntnis
- Eine Liebe
- Part I
- Mit dem Flugzeug zur Arbeit und retour
Im letzten Teil folgen die Kapitel - Part II
- Das Ende?
- Epilog
Prolog
Ich stamme aus dem Ruhrgebiet, habe hier studiert und auch mein Arbeitsleben hier begonnen. Eine lebendige Region, von der das Sauerland (Winterberg) zwar nur gute zwei Stunden entfernt ist, die aber mit dem „richtigen“ alpinen Wintersport ungefähr so viel gemeinsam hat, wie eine Nordseeinsel mit dem Steinkohlebergbau. DIE Berge sind mindestens 750km entfernt und egal wie man es dreht und wendet, eine Anreise bis dorthin verschlingt fast einen ganzen Urlaubstag und bei den mittlerweile erreichten Spritpreisen auch noch einen nicht unerheblichen Anteil aus der Urlaubskasse. Man wird also ganz automatisch zum klassischen Urlauber, der in irgendeinem Ort von Samstag bis Samstag eine Unterkunft bucht und vorzugsweise den gesamten Urlaub im örtlichen Skigebiet verbringt. Womöglich gefällt es einem dort so gut, dass man für viele Jahre aufs Neue immer wieder dort hinkommt. Man vermisst dabei nichts, man kennt es ja gar nicht anders.
Im Winter 1990/91 wurde ich von meinen Eltern im Altern von 8 Jahren in Kappl das erste mal auf die Ski gestellt, fast die gesamten 90er hindurch ging es in den Weihnachts- und Osterferien für jeweils eine Woche vorzugsweise irgendwo ins Paznaun, es gab mit Adelboden, Fiss (damals noch ohne Serfaus) und Saalbach vereinzelte Ausnahmen. Auch wenn wir innerhalb des Paznauns Ort und Unterkunft regelmäßig variierten glaube ich, das alles erfüllt das Klischee des Piefke schon ganz gut. Trotzdem prägte sich schnell eine gewisse jahreszeitenunabhängige Bergaffinität bei mir aus. Meine frühe Leidenschaft war geboren. Zu Beginn der 2000er brachten zwar Dinge wie der Führerschein, die Volljährigkeit und erstes eigenes kleines Geld zwar mehr Gestaltungsspielraum vor allem was die Konstellation der Mitreisenden anbelangte, ich blieb aber was ich war: Quasi ein alpiner Pauschaltourist.
Anfang 2006, seit einem guten halben Jahr bin ich Student, stolpere ich über das Alpinforum und lese regelmäßig mit, erst 2008 registriere ich mich und schreibe hin und wieder. Regelmäßig aber sitze ich völlig fasziniert vor dem Bildschirm, starlis Reisen erscheinen mir wie phantastische Abenteuer (was sie vermutlich auch sind), ungläubig staune ich über die unendlichen Berichte aus allen Ecken der Alpen und erkenne: Es gibt noch mehr als eine Woche Ischgl (dabei war ich übrigens nie Apreskiliebhaber sondern sportlich orientiert) und ich will es sehen.
Anfang November 2011 – irgendwo am Horizont taucht langsam die magische Grenze des 30. Lebensjahres auf, ganz nah hinter mir liegt mein Studienabschluss. 2011 – mein Jahr ohne Sommer, nicht meteorologisch, ich habe ihn einfach verpasst, da sich mein Leben überwiegend am Schreibtisch abspielte. Es folgte ein schlauchender Oktober mit schriftlichen Examina und ein grausiger Novemberanfang mit dem mündlichen Abschluss. Am 4.11. war klar, ich habe es geschafft, großer Jubel, unendliche Erleichterung und dann das erste mal seit langem endlich das Gefühl von nichts! Keine Zweifel, kein Zittern, einfach nur ein leerer Kopf. Zwei Tage habe ich mich vornehmlich damit beschäftigt zu begreifen, dass diese Epoche nun vorbei ist. Ein unterschriebener Arbeitsvertrag zum 1.1.2012 liegt auf dem Tisch, damit brauche ich mich nicht befassen. Nach erfolgreicher mentaler Rekonvaleszenz beschließe ich, dass es nun wieder Zeit sei, sich mit den wichtigen Dingen des Lebens zu befassen und so mache ich mir Gedanken über das Skifahren. Ein paar € Erspartes haben es bis zum Studienende überlebt, mein Studentenjob läuft noch bis Ende November, aber irgendwo dazwischen wird sich schon ein erster Korridor finden. Ich konnte ja nicht ahnen, für was alles dies nur der Auftakt sein sollte.
11.11.-18.11.2011 | Ein Konzept
Ein Jahr zuvor, also 2010, hatte ich Ende September eine Studienfreundin besucht, die für ein Semester in die Schweiz ins Unterengadin gegangen war. Ich reiste damals über den Fernpass an Richtung Scoul und war ganz beeindruckt von der friedlichen Leere Tirols in diesem Korridor zwischen Sommer- und Wintersaison. Einen Tag nutzten wir damals, um auf dem Rettenbachferner die persönliche Skisaison zu eröffnen. Ich mochte die Stimmung, unten herbstlich bunte Farben, oben das erste frische Weiß.
Nun versprach das Wetter gut zu werden, nur hatte es an der Alpennordseite, wir erinnern uns, in einem extrem trockenem Herbst in mittleren bis hohen Lagen bisher fast gar keinen Schnee gegeben.
Im Februar 2011 war ich eine Woche mit meiner Freundin im Paznaun, wegen einer Klausur musste sie aber nach dem 4. Skitag zurück in die Heimat. Ich hatte mir entsprechend auch nur einen Viertagespass gekauft und sie am 5. Tag morgends zum Innsbrucker Flughafen (Billigflug nach Köln

Do, 10.11. - Aufbruch
Ich fuhr nur zwei Stunden weit bis Gießen um dort für den Abend einen guten Freund zu besuchen. Am Freitag früh fuhr ich weiter in die Schweiz in den Kanton Aargau zu meinen Verwandten, noch am Abend ging es gemeinsam weiter nach Zermatt.
Sa. 12.11. - Zermatt, Tag 1
Der Blick aus der Unterkunft, so kennt man es von Postkarten. Das Ambiente Höchstpreissegments ist nicht meine Welt, aber die Skibedingungen waren traumhaft, Zermatt kannte ich bisher nur zu Fuß aus dem Sommer.
So. 13.11. - Zermatt, Tag 2
Auf italienischer Seite hatte es hingegen überdurchschnittlich viel Schnee für die Jahreszeit, vom Winterskigebiet waren bereits bei exzellenten Schneebedingungen die alte 3SB und die komplette KSB-Kette geöffnet.
Abends ging es durch den Autoverlad Kandersteg zurück ins Aargau.
Mo. 14.11. - Kaunertal
Mittelmäßig zeitig breche ich in der Schweiz auf und fahre über St. Gallen Richtung Bodensee und dann bei Hohenems über die Grenze nach Vorarlberg. Bei strahlendem Sonnenschein geht es weiter durch Vorarlberg, aus Zeitgründen durch den Arlbergtunnel Richtung Landeck und dann hinauf ins Kaunertal.
Goldener Herbst am Gepatsch-Stausee
Um Punkt 11:00 Uhr erreiche ich die Mautstelle, also gerade richtig für die ermäßigte Tageskarte. Die 4-KSB ist erst ab der 2. Sektion geöffnet, auf der unteren Talabfahrt liegt weder ein Korn Schnee, noch hatte man bisher Bemühungen unternommen, hier die Schneianlage in Betrieb zu nehmen. Ich bin einer der wenigen, der an der Sesselstation sein Auto abstellt, anstatt bis ganz hoch zu fahren.
Ich vergnügte ich mich den Tag über bei bestem Wetter, einen seinerzeit geschriebenen Bericht gibt es hier: http://www.alpinforum.com/forum/viewtop ... 46&t=41078
Als die 4-KSB Nachmittags ihren Betrieb einstellt, sehe ich mich gezwungen aufzubrechen. Ich fahre zurück bis nach Feichten, hier habe ich mir ein kleines Einzelzimmerchen in einer einfachen Frühstückspension reserviert. Wenig Betrieb ist kein Ausdruck, um 18 Uhr ist der Ort menschenleer und es herrscht eine so unglaubliche Stille, wie man sie als bisheriger Saison-Tourist noch in keinem Ferienort der Alpen wahrgenommen hat. An der Tür der Pension hängt ein handgeschriebener Zettel. „Hallo Herr M. Ich bin zur Zeit unterwegs, bitte rufen sie unter folgender Nummer meine Tochter an, diese ist dann in wenigen Minuten bei ihnen und lässt sie hinein.“ Wen wundert es da, dass ich zur Zeit der einzige Gast im Haus bin? „Am Wochenend, da kchimme noch zwa!“ erfahre ich wenig später. Ich habe für zwei Nächte gebucht, am nächsten Tag geht es als Tagesausflug ins Pitztal. „Was, so weit? Und dann retour hierher am selben Tag?“ - die alte Vermieterin schaut mich sehr ungläubig an und scheint mich für sehr sonderbar zu halten. Nicht nur Massentouristen denken mitunter regional sehr begrenzt, auch Einheimische.
Di. 15.11. - Pitztal
Um ins Pitztal zu gelangen, wähle ich nicht den Weg zurück bis nach Landeck und dann ins Pitztal hinein, sondern die Strecke über den Kaunergrat, kilometermäßig kürzer, zeitlich sicher nicht, denn man kurvt einen kleinen Pass hinauf und wieder hinunter, aber die Strecke ist landschaftlich wundervoll.
So bietet sich z.B. die etwas untypische Perspektive von oben über Prutz hinweg auf das gegenüberliegende Ladis. Wir erinnern uns – Mitte Novembe 2011, der Herbst verlief erst stellenweise sehr mild und dann mit einer langen Hochdruckphase extrem trocken, so dass viele Skigebietsbetreiber zunehmend nervös wurden, da bis in große Höhen keine einzige Flocke lag. Dafür habe ich einen weiteren grandiosen Herbsttag erwischt, während ich über den Kaunergrat kurve, mir begegnet bis oben kein einziges Auto, steige ich immer wieder aus, springe begeistert im Licht der aufgehenden Sonne umher und genieße Ruhe und Farben. Was bitte sollte ich hier nochmal in der Hochsaison?
Nach 1,5 Stunden Fahrzeit bin ich an der Talstation der SSB und erkunde das Gebiet. Hier und da verlasse ich die Piste, kraxel ein Stückchen bis zu irgendeinem Grat hoch und gönne mir ein paar Minuten Sonne und den Ausblick auf das, was dahinter liegt.
Auf dem Rückweg über den Kaunergrat zurück zu meiner Unterkunft in Feichten dann die selbe Begeisterung, dieses Mal allerdings über den Sonnenuntergang. Leider bin ich kein Fotograf und kann Farben und Stimmungen nicht so schön einfangen wie andere hier.
Mi. 16.11. - Stubaital
Ich checke aus der kleinen Pension im Kaunertal aus und mache mich auf den Weg ins Stubaital. Bei wiederum strahlendem Sonnenschein geht es durch das herbstliche Inntal Richtung stubaier Gletscher. Ich bin zwar wieder nicht unbedingt zu Betriebsbeginn da, aber die Parkplätze erscheinen deutlich voller als in den vergangenen Tagen. Bei ersten Teil der Auffahrt erscheint alles wie ein goldener Spätsommertag, kaum zu glauben, dass der Start der Wintersaison kurz bevorsteht. Nachvollziehbar, dass die ersten Touristiker nervös werden. Die Talabfahrt bis zur Mittelstation ist 100% Maschinenschnee. Ohne massiven Beschneiungseinsatz wären auch viele andere Abfahrten im Gebiet noch nicht denkbar.
Nur wenn man geschickt in die hohen Gipfel hineinfotografiert hat man das Gefühl, es könne so etwas wie Winter sein.
Am Nachmittag geht es ein klein wenig zurück das Inntal hinauf und dann bis in den Weiler Huben kurz vor Sölden. Ursprünglich hatte ich geplant morgen auf Retten- und Tiefenbachferner herumzukurven, dann aber von der Eröffnung des Winterskigebiets in Ober- und Hochgurgl gelesen. In Huben bin ich eindeutig nicht der einzige Gast, besonders die Tschechen nebenan sind nicht zu überhören. Abends schreibe ich noch ein paar Zeilen über den abgelaufenen Tag in den Stubai-Thread unter „Aktuelle Schneesituation“ und erwähne, dass ich am nächsten Tag Gurgl aufsuchen werde. Begleitet von tschechischen Liebesbekundungen von der anderen Seite der Wand verschiebe ich das Einschlafen und surfe noch etwas durchs Netz. Beim letzten Forenstreifzug stolpere ich über eine neue PN: „Tach! Talabfahrer und Ich sind morgen in Gurgl. LG L. aka Dachstein“ Wir tauschen die Handynummern aus und verabreden uns für 10 Uhr (Talabfahrer kommt mit öffentlichen Verkehrsmitteln) an der Talstation der Hochgurglbahn. Auch ohne seinen Hinweis war klar worauf ich zu achten hatte, es war mir gut aus Dachsteins vorherigen Skiberichten in Erinnerung geblieben: Eine leuchtorangene Jacke. Das soziale Netzwerk „Alpinforum“ scheint zu funktionieren.
Do. 17.11. - Obergurgl/Hochgurgl – First contact
Persönlich kannte ich bis dato genau eine Person aus dem Alpinforum – mich

Die Gruppe ist mit Talabfahrer bald komplett und es entspinnen sich schnell endlose Gespräche während der Liftfahrten. Man diskutiert über die Schneelage, über- und unterbewertete Skigebiete, wir konfrontieren uns gegenseitig mit beruflichen Vorurteilen, unseren Meinungen über Hubert von Goisen und ich importiere den Begriff „Männerhölle“ als Umschreibung für die untere Etage einer jeden IKEA-Filiale nach Tirol. Hin und wieder streut Dachstein einen historischen Exkurs über vergangene Lifte des Gebietes ein, irgendwann essen wir auf obergurgler Seite Mittag – die Gruppe funktioniert prächtig.
Oben auf der hohen Mut bleibt noch Zeit für etwas Blödsinn, wir entdecken die heimlich errichtete 3. Sektion in Form einer etwas kapazitätsschwachen EPL-KBB (Einerpendellift-Kombibahn) – Talabfahrer gebürt die Erstbefahrung.
Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu, meine Mitstreiter führen bereits Telefonate und planen das Kitzsteinhorn für den nächsten Tag. Ich werde wehmütig – heute ist definitiv mein letzter Skitag, Freitag steht die Heimreise an, denn Samstag erwartet mich unaufschieblich eine der letzten Schichten in meinem alten Studentenjob. Eine ausführliche Dokumentation des Tages findet sich unter http://www.alpinforum.com/forum/viewtop ... 46&t=41113
Wir verabschieden uns am Parkplatz. „Wir sehen uns bestimmt noch mal wieder“ - allen ist klar, dass das hier mehr als eine Höflichkeitsfloskel ist.
(v.l.: Ich, Dachstein, Talabfahrer)
Ich fahre zurück nach Huben und packe mein Auto für die Heimreise am nächsten Morgen. Ich bin begeistert von den vergangenen Tagen. Ich habe nicht nur mir unbekannte Gebiete erkundet, ich war endlich selbst mal an den Orten, die ich aus den Fotoberichten Jahr für Jahr als Bilder schon gut kannte und wo ich immer dachte „Irgendwann fährst du da auch mal hin.“. Normalerweise setzt nach einer ortsfesten Woche 0-8-15-Touristenurlaub bei mir ein entsprechendes Sättigungsgefühl ein, doch so könnte ich noch lange weiter touren. Das Konzept schien sich zu bewähren. Was für eine schöne Wintersaison, in der sich bestimmt noch ein zweiter Urlaub für mich ausgehen würde. Ich konnte ja nicht ahnen, wie das noch alles enden würde.
Fortsetzung folgt Anfang Oktober nach meinem Urlaub!
Edit: Teil 2 ist online: http://www.alpinforum.com/forum/viewtop ... 46&t=44517