Eine investigative Reise in Prosaform zum eigentlich letzten Saisontag in Kitzbühel
"To the wild I travel the unknown
The fathers pray out to be overthrown
Turn the lights down oh to be blind at peace
Let the beast out and watch it bare its teeth"
(aus: Break the walls - Fitz and the Tantrums)
Wie häufiger bei meinen Beiträgen, sollte man sich kurz die Zeit nehmen und auch den Text zwischen den Bildern lesen.
Samstag, 6.5. - Einige fordernde Wochen liegen hinter mir, mittags absolviere ich die bisher wichtigste Prüfung meiner beruflichen Laufbahn. Abends hole ich meine Ski aus dem Keller und belade das Auto. Ich will nur noch schlafen. Mindestens für eine Woche!
Sonntag, 7.5. - 3:15 Uhr morgens - irgendwo in Bochum, ein Wecker klingelt, zwei Gestalten fallen aus dem Bett.
4:00 Uhr - ein bis unter das Dach mit Ski-, Kletter-, Wander-, Laufsachen und einem Frauenkoffer (nur das Notwendigste!) vollgestopftes Auto hält in einer Einfahrt und versucht verzweifelt, eine zweite Frau samt Gepäck (das Notwendigste plus so viel wie die Fluggesellschaft zulässt) aufzunehmen.
4:30 Uhr - Flughafen Düsseldorf. Ein offensichtlich führerloser PKW, dessen Innenraum ausschließlich aus Gepäck zu bestehen scheint, rollt an Abflugterminal B vor. Meine Frau fliegt eine Woche mit Freundin in die Sonne, ich muß Resturlaubstage verbraten.
4:45 Uhr - ich bin wieder auf der Autobahn und kann endlich nach hinten und seitwärts aus dem Auto gucken. Ankunftszeit Kitzbühel laut Google Maps: 11:30 Uhr. Noch 750km.
Die Bergbahnen hatten sportliches Engagement bewiesen und für dieses Wochenende, wohlgemerkt der 6. und 7. Mai, wegen der ausreichenden Schneelage nocheinmal die Fleckalmbahn und ein kleines Angebot rund um den Steinbergkogl geöffnet. Samstag konnte man im Internet die Fotos eines traumhaften Frühlingsskitags bewundern, für den heutigen Sonntag waren Wolken und Niederschlag in flüssiger Form angekündigt. Aber was solls, ich hatte ja keine Wahl.
Kurz vor München erhalte ich den Anruf von Dachstein (manchen mag der Name aus alten AF-Zeiten noch geläufig sein), die Bergbahnen haben auf ihrer Homepage den Skibetrieb wegen starken Windes abgesagt. Er, Schafi und auch Talabfahrer würden daheim bleiben. Auf allen Webcams trübe Aussichten, mittlerweile prasselt auch auf der süddeutschen Autobahn der Regen nieder. Ich werde müde, mir wird kalt, meine Vorfreude ist dahin. Touristenschicksaal halt. In Gedanken wäge ich zwischen "Nach Hintertux durchziehen und im Nebel, aber wenigstens auf den Ski stehen" und "Eine Unterkunft besorgen und 18 Stunden bis Montag morgen durchschlafen" ab.
Um 11:45 passiere ich den Ortseingang von Kirchberg. Das Dorf ist eine Geisterstadt, wie die verregnete Kulisse aus einem Westernfilm, in der es nur Fassaden und dahinter keine Häuser gibt. An den Fenstern hängen nass abblätternde Plakate mit der Ankündigung der Wiedereröffnung in wenigen Wochen. Ich sehe keinen einzigen Mensch in den Straßen, es ist nicht nur ein erbärmlicher Regentag, es ist der Tag nach der Nachsaison, das touristische Nichts, der Moment wo man wieder daran erinnert wird, wie wenig mancherorts übrig bleibt, wenn alle Wintergäste gegangen und noch kein Sommergast angekommen ist. Ich fahre in eine stille Ecke, stelle mir einen Wecker und zolle der Müdigkeit für 25min ihren Tribut.
13:00 Uhr - ich habe mich erfolgreich mit dem Auto bis zur Ochsalm hochgewurschtelt. Bis hierhin reichen die letzten Kunstschneeflecken. Ich stehe im Regen und felle meine Tourenski auf.
Neben mir parkt ein Jaguar, ein in Pelz gehüllter Mann steigt aus und führt seinen Hund gassi. Er grüßt freundlich, sein Hund hat keine Lust mich zu ziehen.
Der Schnee ist teilweise so weich, dass im Steilstück zwar die Felle noch am Untergrund haften, aber der Schnee selbst in sich nicht mehr stabil ist.
Zwei oder drei Mal durchbricht der geräumte Fahrweg die Abfahrt, dann erreiche ich die Ehrenbachhöhe.
Warum ich mich dazu entschlossen habe abzufellen und das kurze Stück bis zur Talstation der Jufenbahn hinunterzufahren um dann im Nassen umständlich den Belag halbwegs zu trocknen um wieder anzufellen, anstatt von der Ehrenbachhöhe direkt weiter aufzusteigen, weiß ich nicht.
Gegen 15 Uhr, knapp 12 Stunden nachdem mein Wecker in Bochum geklingelt hatte, stehe ich auf dem Gipfel des Steinbergkogl.
Ich finde kurz in der verlassenen Bergstation der Sesselbahn Unterstand. Auf den letzten Metern ist der Regen in nassen Schnee übergegangen, der senkrecht auf den Boden fällt. Es ist ganz still, man hört nichts außer dem rhythmischen Tropfen von Tauwasser. Keine Menschen, keine laufenden Maschinen. Und keinen Wind. Meine Frau schickt mir gerade ein Foto von sich, kletternd in den Felsen der Steilküste Menorcas, über ihr die Sonne.
Die schwarze 23/17 ist weich und durchnässt aber gut zu fahren - kein Wunder, man hatte sie ja Samstag Nachmittag noch in Erwartung des letzten Saisontages frisch präpariert. Es fühlt sich zwischendrin fast an wie jener edle Butterfirn an den besonders guten Frühlingstagen in dem kurzen Zeitkorridor zwischen ganz weich und Haufenbildung.
Obwohl der Gegenhang quasi schneefrei ist, entscheide ich mich dazu, auf den letzten Resten und mit am Ende nur einmal Abschnallen am Rand des Fahrwegs entlang von der Taltstation des Steinbergkogls zum Hahnenkamm und von dort weiter zurück zur Ehrenbachhöhe aufzusteigen.
Die Wolken geben zwischendrin den Blick ins Tal frei, sie hängen in grauen Fetzen wie ein verschlissener Theatervorhang herab. Ich bleibe der einzige Protagonist auf einer Bühne vor leeren Rängen. Kein Beifall, keine Kritik, nur das Kunstwerk selbst.
Um viertalnach vier bin ich wieder auf der Ehrenbachhöhe, die letzte Abfahrt ist die Sehnsucht nach Trockenheit und Wärme.
Eine gute Stunde später überquere ich bei Kufstein die Grenze nach Deutschland, Talabfahrer spendiert mir sein grenznahes Gästezimmer, vorher sitzen wir aber noch in einem sehr bayerischen Gasthaus, meinetwegen verzichtet er darauf, am Stammtisch Platz zu nehmen. Das Essen ist solide, aber an diesem Abend hätte ich wohl alles akzeptiert, was nicht unmittelbar gesundheitsgefährdend ist. Am Nebentisch wird in tiefem, für mich nicht zu entschlüsselndem Dialekt offensichtlich über die aktuelle Schafkopfrunde diskutiert. Der auswärtige Gast fühlt sich wie in einer Szene aus Jörg Maurers Krimis mit Kommissar Jennerwein, die in dem dort nie ausgesprochenen Garmisch-Partenkirchen spielen. Wobei das werdenfelser Land und das grenznahe bayerische Inntal wahrscheinlich schon wieder völlig unterschiedliche Kulturkreise sind. Aber ich bin ja quasi Preuße und darf das pauschalisieren.
Um 21:30 Uhr falle ich ins Bett, Schlaf und Erinnerung wechseln die Plätze noch bevor mein Kopf das Kissen erreicht. So viel passt in einen Tag.
"Give me a sledgehammer and give me strength
Watch the world come crumbling down
Cut me loose I seek the truth
I bet the freedom, the freedom will carry me
Hey, break the walls!"
(aus: Break the walls - Fitz and the Tantrums)