"I hear a voice calling
Calling out for me
These shackles I've made in an attempt to be free
Be it for reason, be it for love
But I won't take the easy road"
(aus: "My silver lining" von First aid kit)
Prolog
Es ist Sonntag, der 4.11.2018. Ich muss beruflich auf einen Kongress nach Augsburg. Die Eine, die, die immer Recht hat und mich später auch noch daran erinnert, fragt gar nicht erst, warum auch meine Ski ins Auto wandern. Sie notiert "Strohwitwe" für das nächste Wochenende in ihrem Kalender. Als ich glaube alles zu haben, hält sie triumphirend meine Steigfelle in der Hand. Nein, natürlich habe ich die nicht vergessen, ich wollte sie gar nicht einpacken. Ich werde keine Tour gehen sondern wenn überhaupt nur ein bisschen Pistenskifahren.
Bochum -> Augsburg. Vorträge hören, Häppchen Essen und schon ist Donnerstag. Ich lese die Berichte im Forum, die überfüllten Gletscher mit mäßigen Schneeverhältnissen reizen mich so gar nicht. Sollte ich doch Freitag Nachmittag einfach wieder nach Hause fahren? Oder...verdammt, ich brauche meine Steigfelle. Ich bin etwas kleinlaut als ich in Bochum anrufe und sie triumphiert still, als sie in den Keller geht, meine Steigfelle in ein Päckchen steckt, zur Post geht, eine Expressmarke kauft und sie auf die Reise an eine Packstation in Augsburg schickt.
Freitag Nachmittag, der Kongress ist schon Geschichte, meine Unterkunft ist geräumt und ich biete all meine Selbstbeherrschung auf, um nicht mit einem Brecheisen die Augsburger Packstation zu traktieren. Die Möglichkeit, sich manuell mit seiner Postnummer und der Abhol-mTAN über den Bildschirm einzuloggen, wenn man seine Packstationskarte nicht dabei hat, fehlt bei diesem Modell. Die Hotline bestätigt, dass ich hier und heute nicht an mein Paket komme.
Heimfahren, doch Gletscher? Oder...hmmm... ...irgendwie stehe ich plötzlich in einem Sportgeschäft in München und beobachte einen freundlichen Fachberater dabei, wie er meine Ski in den Händen hält und ein neues paar Steigfelle zuschneidet. Die hier sind viel besser als meine alten und die alten waren ja nun auch schon wirklich alt. Die hätten eh bald mal weg gemusst. Ganz bestimmt...
Ich fahre über Mittenwald hinüber nach Innsbruck und hinauf nach Götzis. Hier bleibe ich die nächsten zwei Nächte.
Am Vormittag war ich auf dem Weg durchs Ötztal Richtung Gurgl noch in Lehn den Wasserfallklettersteig mitnehem. Goldener Herbstwald, milde Temperaturen - der Tag war schon traumhaft, bevor die eigentliche Mission überhaupt begonnen hatte.
Durchfahrt durch Sölden mit dem Gaislachkogel umrahmt von bunten Lärchenwäldern. Ich mag diese herbstlichen Kontraste sehr.
Blick von Hochgurgl nach Obergurgl. Die paar Kilometer, die wir hier näher am Alpenhauptkamm sind, haben ausgereicht, um während der großen Niederschläge im Südstau immerhin ein paar mehr Flocken als in Sölden abzuladen.
Ich wusste vorher, was mich grundsätzlich erwarten würde. Da ich aber nicht genau absehen kann, wie weit die Gehstrecke sein wird, hänge ich meine Skischuhe an den Rucksack und laufe in Turnschuhen mit den Ski auf dem Rücken bergan.
Vielleicht würde ich später irgendwie am Rand bis dort hinten abfahren können, aber es reizt mich noch nicht sonderlich, hier aufzufellen.
Blick zurück nach Hochgurgl. Die Schneelage darf als desaströs bezeichnet werden. Ich erinnere mich zwar noch gut an das Opening 2011, als ähnlich wenig Naturschnee lag, allerdings konnte damals beschneit werden und die Abfahrten waren bis ins Tal möglich. Heuer wird daran nicht zu denken sein.
Vielleicht lohnt es sich ab hier vorne aufzufellen.
Ne, doch nicht.
Am Ende bin ich bis zur Talstation der Wurmkogl 1 KSB und der Schermer EUB gelaufen. Ab hier ist die Schneedecke durchgängig. Aber ob man zumindest bis hier ohne Schneezuwachs eine massentaugliche Abfahrt nächste Woche wird herrichten und halten können? Ich bin skeptisch.
Ganz hinten am Horizont kann der Kenner den Gipfel des Wurmkogel erahnen.
Und der Schnee wird mehr.
Weiter oben wird sogar tapfer beschneit.
Zieht sich, aber ich mache gut Höhe. Und es wird merklich kälter, vor allem wenn mal ein Wolkenfetzen vor die Sonne zieht und der Wind nach unten durchbricht.
Und dann kommt sie in Sicht, die Bergstation der Wurmkogel2-KSB.
Traumhafter Fernblick.
So ruhig und friedlich ist es hier sonst nie.
Südlich des Alpenhauptkammes liegen die Wolken. Sie fließen herüber und lösen sich auf.
Ich will die letzten Höhenmeter bis zum Gipfelkreuz auch noch mitnehmen, zu meiner Freude hat die Strecke schon jemand gespurt.
Das Gipfelkreuz kommt in Sicht.
Was ein Tag. Nach fast 1000 Höhenmetern Aufstieg ist der Moment hier oben schon Lohn genug!
Bei der Abfahrt bin ich tatsächlich durch eine Rinne und etwas durchs Gemüse mit einmal kurz Abschnallen deutlich weiter runtergekommen, ich schätze bis auf knapp 2250m. Aber dann stand ich auch auf der grünen Wiese.
Von der Abfahrt habe ich keine Aufnahmen gemacht, ich hätte die GoPro nicht in Bochum lassen sollen. Oder ich hätte...ach ne, dann würde sie jetzt auch nur in einer Packstation in Augsburg darauf warten, dass sie wieder zurück nach Hause gebracht wird. Aber es ist auch keine Schande, die allerschönsten Bilder mal einfach nur in seinem Kopf zu haben.
"I don't know if I'm scared of dying but I'm scared of living too fast, too slow
Regret, remorse, hold on, oh no I've got to go
There’s no starting over, no new beginnings, time races on
And you've just gotta keep on keeping on"
(aus: "My silver lining" von First aid kit)