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7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 22.07.2018 - 23:36
von bastian-m
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Wie häufiger bei meinen Geschichten, funktioniert auch diese nur mit ihrem Text. Wer bloß schnell Bilder durchscrollen möchte, der möge sich einen anderen Beitrag suchen.


"And the dance goes on until my face suddenly melts
Lights are flashing and it's raining bullet shells
Must be a dream with a taste of truth
I hit the ground
"

(aus: "Storm" von Leoniden)


Prolog
Ist es der Körper oder ist es der Kopf? Ersterer kann nicht mehr, der andere will nicht - keinen einzigen Schritt mehr weiter!
Im Winter hat der Freerider gelernt, die Fakten über den Hang, den Schnee und das Wetter zu sammeln um vorher die richtige Entscheidung zu treffen. Piloten und Ärzte folgen ihren Algorithmen um Schaden zu vermeiden - aber welches Risikomangement hat mich vorher auf die Idee kommen lassen, dass dieser Tag eine gute Idee wäre? Jens hatte geunkt, ich werde oben bestimmt auf ihn warten müssen. Natürlich hatte ich das höflich geleugnet und innerlich doch fest damit gerechnet, aber die letzte halbe Stunde hatte ich nur mit Mühe überhaupt Schritt halten können. Dabei hatte ich Monate vorher mit den Vorbereitungen begonnen, war seither einem Plan gefolgt, der heute hätte seinen Abschluss finden sollen. Die erste Hälfte war so leicht gewesen, danach waren wir getrieben von der Euphorie, dass dieser Tag ein Durchmarsch wird.
Ich denke an zu Hause. "Wenn du das willst, dann mach es einfach!!" hatte sie Ende letzten Jahres gesagt, als ich ihr das erste Mal von meinem Plan erzählt habe, während wir gemeinsam an einem frühen und pulvrigen Dezembertag unsere ersten Spuren in den schweizer Tiefschnee zogen. Da waren Gedanken an den Sommer eigentlich so fern wie die Karibik, aber was ich da im Juli 2018 vor hatte bedurfte, dass man bereits im Dezember 2017 darüber redet. Ob sie jetzt gerade an mich denkt? Ob sie ahnt, in welcher Lage ich mich befinde?
Wo ist der blaue Himmel? Um mich herum schwindet das Licht. Es ist wie ein graues Wabern, welches mich langsam umfängt um sich zu einem Schwarz zu verdichten. Ich sehe kein Ende und weiß nicht mehr, wo der Anfang war. Das Gesicht prickelt als ob es schmelzen will, der Rest von mir wird kalt und meine Schritte kürzer. Das Körpergefühl flüstert einem schon zu was das Richtige ist - gerade schreit es "Keinen einzigen Schritt mehr weiter!" Ich werde langsamer. In Kriesenzeiten zitiert Jens gerne aus Wagners Nibelungen: "Alles, was ist, endet." Dann endet es eben jetzt. Oder ist das hier alles ein Trug? Ich will stehenbleiben, doch dann wird es hell.


1. Akt
1. Aufzug
Ein regnerischer Tag Anfang Dezember 2017 in Bochum, wenige Tage bevor es zum persönlichen Saisonopening in die Schweiz geht. Jens leitet mir eine E-Mail weiter. "Bist du dabei? Überleg es dir, ich mache es so oder so." Er hatte es vor 10 Jahren versucht, in dem Jahr in dem er 40 wurde und hatte mit einer Verletzung schon vorher alles drangegeben, in dem Glauben, dieses Vorhaben von nun an für immer ad Acta legen zu müssen. Dieses Jahr würde er 50 und vorher wollte er sich nach Jahren der Regeneration diesen Traum nun doch noch erfüllen. Selbst mittlerweile näher an der 40 als an der 30, aber damit über ein Jahrzehnt jünger, kann ich das Alter also nicht als Ausrede vorbringen. Natürlich war ich dabei - wie auch immer man sich als Einwohner des Ruhrgebiets auf sowas vorbereiten sollte.

2. Aufzug
Es ist ein Tag nach Neujahr 2018, es sollte ein furioser Aufgalopp für den Juli in Zermatt werden, stattdessen humple ich durch die Straße nach Hause. Später wird der Radiologe erst auf mein MRT und dann bemitleidend zu mir schauen, weil ich mir ausgerechnet jetzt zwei Knochen im Mittelfuß gebrochen habe. Zermatt ist für mich also gestorben.

3. Aufzug
Am letzten März-Wochenende, über 12 Wochen nach dem Bruch und 4 Wochen seitdem ich ohne Krücken unterwegs bin, gehe ich das erste mal wieder zum Sport (Abgesehen vom Skifahren Ende Januar und Mitte März - aber das zählt nicht, Skischuhe sind besser als Gips). Der Fuß scheint zu halten. Vielleicht doch im Juli nach Zermatt? Unmöglich? Unvernünftig? Einen Versuch wert? Ich beschließe, weder Apartment noch Zugticket zu stornieren.


2. Akt
1. Aufzug
Mittwoch, 4.7.2018
Abends. Ich packe für 3 Nächte in Zermatt. Eigentlich würde ein Rucksack reichen. Zumindest wenn ich mich entscheiden könnte, aber mich treibt die nicht gerade rationale Sorge, dass wenn das Wetter mich denken lässt, dass eine leicht gefütterte 7/8-Hose perfekt wäre und ich nur eine mittel gefütterte 3/4-Hose dabei habe, ich genau deswegen scheitern werde. Die Eine, die offensichtlich in der selben Wohnung wie ich wohnt und gelegentlich kluge Ratschläge gibt, meint, ich solle halt einfach alles mitnehmen, woraufhin ein nicht unerheblicher Teil meines Kleiderschranks in einen Rollkoffer nicht unerheblicher Größe wandert.

2. Aufzug
Donnerstag, 5.7.
Vormittags. Jens und seine Frau holen mich ab. Meine bleibt zu Hause (“Nur weil ich mal gesagt habe ‘Macht das ruhig’, heisst das noch lange nicht, dass ich dabei zugucke, wie ihr euch zerlegt. Außerdem ist da ein Beachvolleyballturnier, sowas gibt es in Zermatt nicht.”) Mein Rollkoffer nicht unerheblicher Größe findet nur noch auf der Rückbank Platz. Bochum-Köln-Basel-Visp, soweit ist die Route vorgezeichnet und mit 39€ im Sparpreis incl. ICE ein wahres Schnäppchen.
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Die Deutsche Bahn gibt dabei alles, um auch komfortable Umsteigezeiten noch mit etwas Spannung zu versehen und dank defekter Klimaanlage das letzte Klischee zu erfüllen. Trotzdem wäre die Anreise mit dem Auto definitiv langsamer und weniger entspannt gewesen. Am frühen Abend stehen wir in der Sonne jenes lauen Sommertags am Bahnhof Visp am Eingang des Mattertals. Mit jedem Kilometer Richtung Alpen war unsere Euphorie gewachsen - der Weg ist halt das Ziel. Wie wahr, wie wahr!
Im Alltag gelebtes Verantwortungsbewusstein bedeutet, saisonal und regional zu kaufen. Radler hat zum Glück immer Saison und ich weiß von zahlreichen Fahrten über die A3 bei Rheinfelden, dass Feldschlösschen in der Schweiz braut. Kommt für meinen Geschmack zwar um Längen nicht an Fiege ran, aber kann man trinken! ;-)
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Auf Fotos neben ihm komme ich mir immer so klein vor, dabei bin ich 1,86m.
Ich muss an dieser Stelle nochmals betonen, dass das Bahnticket für die 750km bis Visp 39€ gekostet hat, denn sonst würde es seine Wirkung verfehlen, dass der Automat für das separat am Bahnsteig zu lösende Ticket für die letzten 40km bis Zermatt umgerechnet ~32€ einfordert. Die Sonne neigt sich langsam dem Horizont entgegen, in den tiefen Taleinschnitten wird es schattig.
Alpiner Mythos, Paradies für echte und unechte Alpinisten, Station für Fototouristen und Souvenireinkäufer - Zermatt ist alles in einem. Und dann sind wir da, ich das erste mal seit 2011. Die charakteristischen Dinge sind geblieben - das direkte Nebeneinander von Rolex- und Outdoor-Läden und die kleinen, kantigen, fast lautlos durch die Gassen flitzenden Elektrobusse. Einer davon hält neben Jens, um ihn und seine Frau zu ihrem Hotel mit Matterhornblick zu shutteln. Dafür war ich zu geizig gewesen. Ich schlörre meinen Koffer nicht unerheblicher Größe vorbei an der Gornergratbahn, biege in den Windfang eines kleinen Hauses ab, ziehe mit einem Code den Schlüssel für mein Apartment aus einem Automaten und dusche. Jens genießt gerade bestimmt von seinem Balkon den Postkartenausblick. Ich schaue aus dem Fenster und gucke auf den Lockschuppen der Gornergratbahn. Mein Blick wandert zum Koffer von nicht unerheblicher Größe und dann auf meine innere Uhr. Diese ist offenbar verwirrt, zuckt mit den Schultern und schlägt vor, zur Sicherheit einfach schlafen zu gehen. Auf gestern folgte heute, also wird es höchstwahrscheinlich auch ein Morgen geben und das würde sich hervorragend zum Auspacken eignen. Ich falle ins Bett und schlafe augenblicklich ein.


3. Aufzug
Freitag, 6.7.
Einer beruflichen Rhythmik folgend werde ich mitten in der Nacht wach und wundere mich darüber, dass mich keiner geweckt hat und dann final wieder um halb sechs. Der Morgen dämmert, die Berge hüllen sich in eine graue Decke, alles ist feucht, es scheint etwas geregnet zu haben.
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Das war so vorhergesagt, heute stark bewölkt, morgen für den großen Tag dann heiter bis sonnig. Muss man dran glauben. Und drauf hoffen!
Ich brauche Frühstück, aber noch hat nichts geöffnet. Der unausgepackte Koffer nicht unerheblicher Größe schaut mich vorwurfsvoll an. Als ich fertig bin, ist der Kleiderschrank dieses für zwei Personen gedachten Apartments gut gefüllt.
Kurz vor Öffnung der Supermärkte spaziere ich los. Falls heute jemand hoch hinaus will, so ist er schon weg und der Rest noch nicht aus dem Haus. In dieser schmalen Spanne Zeit des Tages wirken die Straßen wie Nebensaison. Gott sei Dank habe ich ohne Matterhornblick gebucht, sonst würde ich mich jetzt bestimmt über das schlechte Wetter ärgern. Jens wird es derweil gelassen nehmen und sich mit dem Frühstücksbuffet trösten.
In der Schweiz können wir nichts anderes als Touristen sein, aber heute sind wir es ganz und gar. Die Ambition ist, an jenem Tag keine zu haben. Wir erledigen hier und da ein paar Sachen und sitzen mittags in der Gornergratbahn. Es zieht eher weiter zu und als der erste Regen fällt, beschließen wir, auf Riffelberg frühzeitig auszusteigen und uns lieber mit Cappuccino und Kuchen zu beschäftigen, als mit all der Tristess, die ein Skigebiet an einem ausblicklosen grauen Sommertag haben kann.
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Immer wenn ich in den Alpen unterwegs bin überlege ich, ob mir jemand aus dem Alpinforum einfällt, der an meinem Ziel lebt und schreibe ihn an, um die Zahl der persönlich bekannten zu erhöhen. Theo ist den Tag über auf Sunnegga und Abends wahrscheinlich nicht im Dorf. Könnte knapp werden heute. Als wir vom Riffelberg zurück sind, reicht es für die Auffahrt auf Sunnegga nicht mehr, denn ich bin einer anderen Einladung folgend zum Dorfeingang unterwegs und stehe um Punkt 17 Uhr vor einem großen blauen Stahltor. Etwas ratlos drücke ich auf einen im Verhältnis zum Portal unscheinbar winzigen Klingelknopf. Erst passiert nichts, dann geht die Tür auf und ich trete in einen Aufzug, in den ein kleines Wohnmobil passen würde. Wieder suche ich etwas ratlos die Wände ab bis es von alleine nach oben geht. Dann stehe ich auf dem Flugfeld jener berühmten fliegenden Helden der Air Zermatt.
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Ich werde herumgeführt und obwohl der Feierabend um 18 Uhr bereits naht, entspinnen sich nette Gespräche mit Fachsimpeleien um berufliche Gemeinsamkeiten.
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Wir wünschen uns gegenseitig, dass ich die Jungs am nächsten Tag nicht brauchen werde. Ein nettes kleines Highlight zum Tagesausklang.
Zurück in meinem Apartment sichte ich ein letztes Mal den Wetterbericht für morgen und grüble über der Temperaturprognose. Hätte ich alle rechnerisch möglichen Kombinationen aus dem Kleiderschrank durchprobiert, würde die Nacht nicht ausreichen. Es ist schon länger dunkel, als ich mich endlich entschieden habe und ein kleiner Haufen mit der Ausrüstung für den Folgetag bereit liegt.


3. Akt
Samstag, 7.7.2018.
1. Aufzug
Die Nacht war kürzer als die vorherige, aber das ist in Ordnung. Die Sonne steht noch tief, an den Gipfeln kleben Wolken, aber man sieht bereits den blauen Himmel und der gewinnt mit jeder verstrichenen Viertelstunde mehr die Oberhand.
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Die Touristen schlafen noch, als Jens und ich uns treffen. Auf dem Weg zum Ausgangspunkt sparen wir uns so viele Meter wie möglich. Eigentlich sind jetzt nur Leute unterwegs, die dasselbe Ziel haben wie wir und es werden immer mehr. Als wir uns schon gedanklich sammeln, Jens in Vorfreude, ich innerlich nervös und äußerlich still, beäuge ich die Kleidung der Anderen, Blicke zum Himmel, fühle der kühlen Morgenluft nach und frage mich wieder, ob ich die richtige Ausrüstung gewählt habe. Beim Aufstehen erschien der bereitgelegte Stapel noch mit Bedacht zusammengestellt. Doch da hatte kein Eispickel gelegen, kein Helm, keine Steigeisen, kein Gurt, kein Seil und keine Bergschuhe. Aber zum Zweifeln bleibt keine Zeit mehr, von überall haben sich die Menschen nun gesammelt, ein Summen eingepferchter Energie liegt in der Luft um sich jeden Moment Bahn zu brechen. Auf ein lautes Signal hin beginnt alles zu fließen und dann sind wir mittendrin - mitten im Zermatt-Marathon von St. Niklaus zum Riffelberg. 42,195km bergauf, 1944 Höhenmeter Anstieg und wir laufen gerade über die Startlinie.


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Jens ist im Getümmel immer einfach zu finden. Er sticht nicht nur mit seiner Größe hervor, sondern auch mit dem leuchtend grellen Pink seines Laufshirts der Aktion Canchanabury, einer Organisation, die unter anderem Spenden für Aids-Weisen sammelt.


2. Aufzug
Ja, wir sind Marathonläufer, aber das ist eines von vielen Hobbys. Wir haben Familie, Freunde und einen zeitfressenden Job. Wie trainiert man für sowas? Vor allem, wenn man in Bochum auf 120m über dem Meeresspiegel wohnt und die höchsten Hügel der näheren Umgebung knapp 350m messen? Dazu finden sich ein paar Ausführungen im Epilog am Ende - aber reicht unsere Strategie? Eigentlich ist Scheitern keine Option, aber wir machen das lange genug, um auch die Vernunft zu besitzen aufzuhören, bevor man sich selbst nachhaltig schadet.
Die erste Hälfte der Strecke verläuft verhältnismäßig sanft von St. Niklaus bis nach Zermatt durch den Talboden, immer in der Nähe der Matter Visper entlang über größtenteils breite Wege, Fahrstraßen und sogar Asphalt, nur kleinere Abschnitte sind richtiger Singletrail. Dabei überwindet man immerhin schonmal 500 Höhenmeter. Und genau das ist die Krux an der Sache. Wenn man einen Halbmarathon mit 500 Höhenmetern in den Beinen hat, folgt erst das richtig dicke Brett mit fast 1500 Höhenmetern über weitere 21km mit noch dazu deutlich mehr Trail. Man muss sich die Kondition also so einteilen, dass man nach besagtem ersten Halbmarathon mit 500 Höhenmetern taufrisch und entspannt in Zermatt einläuft, um die zweite Hälfte in Angriff zu nehmen.


3. Aufzug
Die 1. Hälfte
Wer schonmal auf größeren Breitensportveranstaltungen an Läufen teilgenommen hat, egal über welche Distanz, kennt, so er nicht zur Leistungsklasse der oberen 10% gehört, das Problem, unmittelbar nach dem Start nicht sein eigenes Tempo laufen zu können, denn trotz des um Minuten versetzten Starts in mehreren Blöcken muss sich die Masse erstmal auf der Strecke verteilen, es ist am Anfang schlichtweg zu voll. Beim Berlinmarathon verstopfen mehr als 43.000 Starter sogar die Straße des 17. Juni, für die Gassen von St. Niklaus reichen 1800. (800 Starter Marathon, 800 Ultramarathon [nur 3,5km länger, aber nochmal 500 Höhenmeter mehr bis zum Gornergrat], 200 Staffel-Marathon). Man muss sich vorher von dem Gedanken frei machen, hier unnötig Zeit zu verlieren. Es bringt nichts, es lässt sich nichts ändern und der Versuch sich durchzudrängeln ist nicht nur unsportlich, sondern mitunter gefährlich und führt auch nicht früher ins Ziel. Das, was wir alle nach den ersten Metern an Zeit verlieren, weil die Gasse enger wird und plötzlich alle nochmal 50m im Gänsemarsch gehen müssen bis es sich entzerrt, ist für den Breitensportler total irrelevant - wo im Feld man sich zum Ende hin einreiht, entscheidet sich an ganz anderen Passagen.
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Könnte einem direkt die Laune verderben, jedoch der schlaue Mensch nutzt den kurzen Moment einfach zum Scherzen und Plaudern mit den Umstehenden.
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An dieser Stelle versuchte tatsächlich eine Läuferin auf allen Vieren links durchs Gebüsch hochrobbend, den Stau zu umgehen. Totaler Blödsinn, erstens lächerlich und zweitens wurde sie dabei nach hinten durchgereicht. Der ganze Stau war keine 200m lang und danach verteilte es sich prompt.

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Das ist die so genannte fahrende Tribüne - ein Zug, der immer wieder langsam neben dem Hauptfeld entlang zuckelt.

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Auf den breiten Wegen mit gefälliger Steigung muss man sich zügeln, denn eigentlich würde man hier viel zügiger laufen, aber wir sparen uns auf für das, was nach Zermatt kommt.

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In Randa scheint das komplette Dort auf den Beinen zu sein. Beste Volksfestatmosphäre beim Durchlauf!

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Das erste Mal kommt Zermatt und das teils verhüllte Matterhorn in Sicht.

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Einlauf ins Dorf, Halbzeit. Wir tun mal so als hätte es funktioniert, hier entspannt anzukommen.

4. Aufzug
Die 2. Hälfte

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Hier übergeben die Staffelmarathonis an den 2. Läufer und die Halbmarathonläufer kommen hinzu. Lauter frische Menschen ohne Schweiß im Gesicht, eine Portion leichtfüßiger als wir.
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In der Passage durchs Dorf stört das aber nicht, das Publikum trägt einen mit der Stimmung mühelos durch die Gassen.

Wir verlassen Zermatt nahe des Matterhorn-Expresses ca. ein Drittel der Strecke hinauf bis Furi,
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dann macht man in einer kleinen Schleife kehrt zurück ins Dorf.
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Das gefällt mir gar nicht so gut, denn obwohl man mit jedem Schritt mehr Strecke macht, fühlt es sich im Kopf an, als ob man zurückfallen würde.

Dann folgt die erste echte Schlüsselstelle der Strecke - der Rietweg und dessen Verlängerung nach oben - nächstes Etappen-Ziel: Sunnegga.
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Im Winter Talabfahrt, im Sommer steile Fahrstraße. Man läuft einen Marathon - also ist man zum Laufen hier, eigentlich. Das unterscheidet viele Alpenläufe von den Flachlandvarianten. Es gibt Passagen, die sind so steil, dass sie außer für die absoluten Topatlethen der Spitzengruppe nicht sinnvoll laufbar sind, auch nicht im langsamen Trab. Man muss ins zügige Gehen zurückfallen und das fällt mental ganz schön schwer und haut körperlich natürlich trotzdem rein. Hin und wieder sieht man einen, der das nicht wahrhaben will, der immer wieder in langsamen Trab verfällt und damit doch nicht schneller vorankommt als der Rest, aber dafür ein Vielfaches der Energie verschwendet.
Manche der Gehverweigerer zahlen später Lehrgeld und sitzen am Rand oder werden von Wadenkrämpfen niedergestreckt. Es nützt alles nichts, zügig Gehen - oder neudeutsch vielleicht Powerwalken oder Speedhiken, dabei ein bisschen versuchen den Ausblick zu genießen und sich der Illusion widersetzen, man würde gerade wie eine Fliege im Honig strampeln und versumpfen.
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Nach Ottmars Skihütte weichen die offenen Wiesenhänge einem sich langsam um uns schließenden Wald. Es gibt keine schönen Ausblicke mehr, keine Gipfel, nur ein Tunnel aus dunklem Grün und meine Beine beginnen schwer zu werden, viel zu früh. Jens zieht seine flüssige Linie unbeirrt weiter. Sonst oft neben oder einen halben Schritt vor ihm, reihe ich mich stumm hinter ihm ein, als suchte ich so etwas wie einen Windschatten, der mich die Form wiederfinden lässt.
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Dann biegen wir ein in die Mulde zur Talstation der Sesselbahn Petrularv und es wird geradezu düster, die Hänge schlucken das Licht und die Farben. Die Verpflegungsstation ändert nichts an meiner Verfassung. Ist das ein leichtes Kratzen im Hals? Kündigt sich gerade ein Wadenkrampf an? Das erste Mal schmerzen die Muskeln, das erste Mal tut Zermatt weh. Wie soll das weitergehen? Hier bei km 28 sind erst zwei Drittel geschafft.

Ist es der Körper oder ist es der Kopf? Ersterer kann nicht mehr, der andere will nicht - keinen einzigen Schritt mehr weiter!
Im Winter hat der Freerider gelernt, die Fakten über den Hang, den Schnee und das Wetter zu sammeln um vorher die richtige Entscheidung zu treffen. Piloten und Ärzte folgen ihren Algorithmen um Schaden zu vermeiden - aber welches Risikomangement hat mich vorher auf die Idee kommen lassen, dass dieser Tag eine gute Idee wäre? Jens hatte geunkt, ich werde oben bestimmt auf ihn warten müssen. Natürlich hatte ich das höflich geleugnet und innerlich doch fest damit gerechnet, aber die letzte halbe Stunde hatte ich nur mit Mühe überhaupt Schritt halten können. Dabei hatte ich Monate vorher mit den Vorbereitungen begonnen, war seither einem Plan gefolgt, der heute hätte seinen Abschluss finden sollen. Die erste Hälfte war so leicht gewesen, danach waren wir getrieben von der Euphorie, dass dieser Tag ein Durchmarsch wird.
Ich denke an zu Hause. Ob sie jetzt gerade an mich denkt? Ob sie ahnt, in welcher Lage ich mich befinde?
Wo ist der blaue Himmel? Um mich herum schwindet das Licht. Es ist wie ein graues Wabern, welches mich langsam umfängt um sich zu einem Schwarz zu verdichten. Ich sehe kein Ende und weiß nicht mehr, wo der Anfang war. Das Gesicht prickelt als ob es schmelzen will, der Rest von mir wird kalt und meine Schritte kürzer. Das Körpergefühl flüstert einem schon zu was das Richtige ist - gerade schreit es "Keinen einzigen Schritt mehr weiter!" Ich werde langsamer. In Kriesenzeiten zitiert Jens gerne aus Wagners Nibelungen: "Alles, was ist, endet." Dann endet es eben jetzt. Oder ist das hier alles ein Trug? Ich will stehenbleiben, doch dann wird es hell.

Besonders Ultramarathonläufer erzählen gerne von einem kleinen Zwerg im Kopf, der uns Dinge zuflüstert. Wir wissen nur nicht, welches seine Stimme ist. Das Körpergefühl meldet uns, wann es unvernünftig wird. Das Bauchgefühl wägt eher mit Emotionen ab, dann haben wir noch eine rationale Vernunft die zu uns spricht und vielleicht so etwas wie eine irrationale Angst. Das alles ergibt ein Stimmengewirr und manchmal kann man nicht trennen, wer da gerade was zu einem sagt und dieser kleine Zwerg in unseren Köpfen ist ein Demotivator. Er sagt schon vorher, dass man es nicht schafft, er ist der Pessimist im Chor der Gedanken, ein Quertreiber, einer der schon auf den ersten Kilometern jammert wie schlimm es bestimmt später noch wird. Und als ich denke, dass gerade mein Körper zu mir spricht und mir mitteilt, heute sei doch nicht mein Tag und dass ich schon jenseits der Reserve laufe, da ist es in Wirklichkeit nur der scheiß Zwerg. Das begreife ich, als es hell wird, weil die Sonne mir durch den sich öffnenden Wald ins Gesicht scheint. Dann sehe ich das Matterhorn und der Blick öffnet sich zu den kleinen Hütten von Tufteren.
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Laufen, endlich wieder Laufen! Wir traben an, ich ziehe an Jens vorbei, der begeistert mit mir die ersten noch-Geher links liegen lässt und dann kommt schon Sunnegga in Sicht.
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Was zählt sind am Ende die Bilder im Kopf, trotzdem nehmen wir uns die 10 Sekunden, um zusätzlich die Erinnerung in ein paar Fotos festzuhalten.

Ich winke in eine imaginäre Richtung, eigentlich müsste Theo hier irgendwo Dienst tun. Ab hier trennen sich Jens und meine Wege, beide lassen wir uns treiben vom Rhythmus unserer Schritte und irgendwann spült es mich etwas nach vorne von ihm weg bis ich ihn aus dem Blickfeld verloren habe. Wir haben beide unsere zweite Luft gefunden, ab jetzt kann jeder definitiv auf sich selbst aufpassen. Ich stecke das erste Mal die Kopfhörer in die Ohren und entscheide mich zum Auftakt für Fury in the Slaughterhouse "Climb your personal everest".

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Der Weg vorbei am Leisee wirkt etwas skurril, man hat das Gefühl, man läuft mitten durch einen Kinderspielplatz und bei näherer Betrachtung tut man das eigentlich auch. Wieder applaudieren zahlreiche Wanderer, mancher verirrt sich aber auch auf unseren Weg und springt dann bereitwillig zur Seite.

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Mal mehr mal weniger steil geht es auf einem schmalen Pfad in großem Bogen hinein ins Findeltal, fast mühelos fällt Kilometer für Kilometer.

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Gegenüber verläuft die Pendelbahn Gant-Hohtälli. Unsere Strecke führt aber erstmal nach links weiter hinein ins Tal.

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Bei Kilometer 35 nähert sich die Strecke dem Talboden und schlägt am Horizont einen Bogen und führt zur anderen Bergseite hin wieder talauswärts, 500m später passiere ich die Pendelbahnstation Gant-Hohtälli.
Die Beine sind leicht, die Gelenke glücklich, aber das Essen fällt mir gerade etwas schwer. Beim Durchlauf der nächsten Verpflegungsstation ignoriere ich die angebotenen Bananen und freue mich über die letzte Portion meiner Lieblingsschokolade aus der Tasche, während der Weg die Findelbahn auf halber Höhe kreuzt.

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Die Strecke traversiert weiter bis zur Station Riffelalp. Wieder gibt es viele Anfeuerungsrufe der Umstehenden.

Ich weiß, dass die zweite Schlüsselstelle folgen wird, denn es fehlen noch einige hundert Höhenmeter auf den letzten Kilometern.
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Ab Albhitti bei Kilometer 39,3 wird es knackig, die nächste Gehpassage.
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Dann kann man nochmal kurz laufen, bevor ich ab Kilometer 40,4 auf der Skiabfahrt neben dem charakteristischen Galerie-Abschnitt der Gornergratbahn steil bergan stratzen muss.
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Jetzt bloß nicht den Fluss verlieren und auch nicht übermütig werden.
Und wenn man die Station Riffelberg dann schon sieht, wenn man die Menge schon hört, dann macht die Strecke einen Schlenker nach rechts in einem Bogen um all das herum und es geht zu einem letzten Ansturm auf einen Hügel hinauf und man ist etwas oberhalb von Riffelberg wieder aus dem Sichtfeld des Zielbereiches.
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Ich gucke zwei mal hin, aber tatsächlich. Da stehen zwei Dudelsackspieler - offensichtlich ein traditionelles Schweizer Instrumentarium in Kombination mit einer Tracht aus traditionellen schweizer Herrenröcken. Kennt man doch!
Hier trennt sich nach rechts die Strecke für die Ultramarathonis, die auf 3,5km nochmal gut 500 Höhenmeter bis zum Gornergrat überwinden müssen. Würde jetzt auch noch irgendwie gehen, aber richtig Bock hätte ich nicht.

Wie weit noch? Bestimmt noch ein Kilometer. Ich schaue auf meine GPS-Uhr. Hätte ich eigentlich wissen müssen, ich habe das bei jedem Marathon. Auf den letzten fünf Kilometern scheinen selbst hundert Meter nur zäh zu vergehen und bevor ich realisiert habe, dass bald der letzte Kilometer anbricht, ist er vorbei. Ich schaue auf, eine Kurve - und da ist das Ziel. Einfach so.
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Den vor mit könnte ich noch überholen - aber wofür? Die letzten Meter sind zum genießen da, denn sie sind der wahre Lohn des Breitensportlers. Ja, vielleicht freut man sich über irgendeine Zeitmarke, vielleicht hat man irgendeine persönliche magische Grenze geknackt, aber es sind die letzten 100m und das Zielband, wofür man hier angetreten ist. Ich klatsche mit dem Moderator an der Ziellinie ab, dann bleibe ich stehen. Tief zufrieden, glücklich, entspannt und mit sich und der Welt im Reinen. Genau dieses Gefühl versucht man dann immer noch eine Weile mit sich umherzutragen wie die Medaille, die man dazu um den Hals bekommt.
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Festen Schrittes komme ich bei der Kleiderbeutelausgabe an und finde den Weg zum Duschzelt - eine Art Festzelt, unter der Decke am Gestänge aufgehängte Schläuche, aus denen erfreulich warmes Wasser kommt. Großartig, wundervoll! Und dann endlich trockene Sachen. 5:46:14h - knapp 2h langsamer als meine Zeit im Flachland, wie vorhergesagt. Aber die Zeit ist mir egal, ich bin angekommen und gesund und 20 Minuten später weiß ich, dass es auch für Jens gilt.
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Unterwegs habe ich immer wieder das Handy aus der Tasche gezogen, so sind all die Fotos und auch ein paar Videoschnipsel entstanden, die meisten von ihnen aus vollem Lauf. Sie sind verwackelt, sie sind durch die verschwitzte Linse unscharf, aber sie archivieren einen kleinen Teil meiner Erinnerungen an den Tag, so auch das auf der Heimfahrt zusammengetackerte Video mit 2:45min komprimierter Eindrücke vom Start bis zum Ziel, unterlegt mit der offiziellen Hymne des Zermatt-Marathons, deren Text nebenbei hoch moralisch und politisch ist.
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Wenig später sitze ich mit Jens und seiner Frau auf der Terrasse mitten in der Volksfeststimmung des Riffelberg-Restaurants.
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Der Preis des Käse-Röstis von 35 Franken schmerzt den Nicht-Schweizer, aber es ist natürlich das Beste was ich je gegessen habe am besten Tag der Welt mit Blick auf den schönsten Berg im tollsten Tal...äh...ja, womöglich zirkulieren noch ein paar Endorphine. Trotzdem ist der Preis gerade egal. Auch für den Schokokuchen. Und das Erdinger Alkoholfrei. Und den Apfelkuchen.
Die Gornergrahtbahn fährt in verdichtetem Takt, im Apartment dusche ich ein zweites Mal und lege mich aufs Bett. Theo schreibt, er gratuliert und wird später im Festzelt auf dem Konzert sein. Das ist doch ein Wort. Noch immer geht es mir gut, kein Ausgezehrtsein, kein Flüssigkeitsdefizit, nur diese wohlige Entspannung auf einer bequemen Matratze und die Bilder des Tages im Kopf. Irgendwie bekommen die Bilder allmählich Ton, ich bin draußen - etwa wieder auf der Strecke? Nein, auf der Arbeit, aber in dreckigem Sportzeug. Wenn das mein Chef sieht. Moment mal. Ich wache auf. Es ist 21 Uhr, das Konzert läuft seit einer Stunde, aus der Matratze müssen unsichtbare Arme gewachsen sein, die mich in die gemütlichen Kissen pressen. Schweren Herzens schreibe ich Theo, dass ich mich umdrehen und weiterschlafen werde. Schade! Ihn nicht getroffen zu haben ist das einzige Manko des Wochenendes. Aber hey, es ist Zermatt. Ich werde irgendwann sowieso wiederkommen.
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4. Akt
Sonntag, 8.7.2018.
1. und einziger Aufzug
Unsere Startnummern gelten als kostenloses Ticket für die Bahnfahrt bis Visp. Von hier an bringt uns der 39€-Sparpreis wieder bis nach Bochum. Vorher wundere ich mich am Bahnhof noch, warum es bei der Durchfahrt eines Güterzuges wie nach verschmortem Bremsbelag riecht. Wenig später bleibt dann unser Zug für eine habe Stunde im Lötschberg-Basistunnel stehen, weil ein vorausfahrender Güterzug einen technischen Defekt hat. Irre ich ich, oder riecht es hier wie verschmorter Bremsbelag? Damit verpassen wir natürlich alle Anschlusszüge, müssen puzzeln, verlieren die Sitzplatzreservierungen usw. Und wir fahren über Bern und können so aus dem Zug beim wundervollen Aareschwumm zusehen. Wem das nichts sagt: Die Aare ist ein sehr sauberer Fluss, der mit angeneh zügiger Strömung Bern und das Umland durchschleift. Traditionell lassen sich im Hochsommer täglich hunderte Menschen über lange Strecken zügig quer durch die Stadt treiben, es gibt zahlreiche Ein- und Ausstiegsstellen.
Ansonsten kommen wir ohne weitere Highlights in Bochum an - jedenfalls unmittelbar nachdem wir umgeleitet wurden und unplanmäßig ein weiteres Mal in Duisburg umsteigen müssen. Ich betone regelmäßig, wie sehr ich das Ruhrgebiet liebe, die Dichte an Kultur, das Nebeneinander von urbanem und viel Grün. Aber auf dem Heimweg aus der Schweiz am duisburger Hauptbahnhof umsteigen zu müssen, ist schon sehr hart. Es stinkt nach Pisse, der halbe Bahnhof bzw. dessen Glasfassade wird von hunderten Metern Gewebeklebeband zusammengehalten und es gibt nur wenig Fläche, die nicht mit Graffiti beschmiert wurde. Ich denke zurück an die Berge und das Aareschwimmen - noch nicht ganz zu Hause, träume ich schon wieder von der Schweiz.
Vielleicht kommt irgendwann der Tag. an dem ich einfach nicht zurückkehre.


EPILOG
Was ich abseits der Prosa an Laufinteressierte mitgeben kann:
Es gibt zwei Theorie-Hinweise, wie man sich als Flachländer wie ich auf einen Bergmarathon vorbereiten kann:
1. Lauf so lange deine kleinen Hügel auf und ab, bis du kumulativ vierstellige Höhenmeter Anstieg gemacht hast.
2. Eine entspannte Zielzeit für Zermatt ist für den Mittelklasse-Hobbyläufer seine Marathonzeit in der Ebene plus ca. zwei Stunden und so lange läuft man dann vorher im Training in der Ebene mal am Stück - egal wie viele Kilometer.
So viel zur Theorie. In der Praxis haben wir es vorher gemeinsam auf Hügelläufe bis kumulativ knapp über 1000 Höhenmetern Anstieg gebracht und ich auf vier Marathondistanzen sowie 5,5h langsames Laufen ohne Pause in der Ebene - oder 52km.

Aus der unterschiedlichen Wegbeschaffenheit ergibt sich auch eine meiner Ausrüstungsfragen: Trail- oder Straßenschuhe? Mit harten Trailschuhen auf Asphalt ist doof, mit Straßenschuhen im Gelände auch. Es gibt zahlreiche Kompromissoptionen, z.B. weiche Trailschuhe oder Hybridlösungen zwischen den beiden Welten. Ich laufe jede Distanz in Natural Running-Schuhen, sprich fast gänzlich ohne Dämpfung in der Sohle, wenig Stabilisierung und kaum oder gar keiner Sprengung (Höhenunterschied zwischen Ferse und Vorfuß). Ich bin Anhänger der Theorie, dass unser Körper für lange Laufdistanzen konstruiert ist - eigentlich - wenn wir die Technik im Alltag nicht verlernen würden, denn unsere Füße und Sprunggelenke sind dafür gemacht, die Aufprallenergie aufzunehmen und abzufedern und nicht irgendwelche Gelsohlen. Das bedingt einen sauberen Mittelfußlauf bis zum Schluss und das Aufsetzen unter dem Körperschwerpunkt und nicht davor. Es gibt die ersten Studien dazu, die nahelegen, dass stark gedämpfte Schuhe das Laufen zwar subjektiv angenehmer erscheinen lassen, die Aufprallenergie an den Knie- und Hüftgelenken aber größer ist und damit Schaden angerichtet wird. Ob man jetzt an Natural Running glaubt oder nicht - unbestritten ist, dass Laufen nicht trivial ist und Technik bedarf, die die meisten Breitensportler vernachlässigen und somit kraftineffektiv und zu oft ungesund unterwegs sind.

Auch wenn mein Koffer für alle Eventualitäten des Wetters etwas vorgehalten hat, hatten wir richtig Glück. Vormittags im Tal trotz Hochsommertag noch ausreichend kühl, Mittags dann hoch genug damit es nicht heiß wurde und wiederum warm genug, um ganz oben auch nicht zu frieren. Wie man auf den Fotos sieht, bin ich in kurzer Hose, hohen Kompressionssocken (nicht weil ich dran glaube, sondern sie einfach angenehm finde) und kurzärmeligem dünnem Laufshirt und einem ärmellosen engem Unterziehshirt unterwegs gewesen. Das war für mich perfekt. Im Laufrucksack hatte ich einen ultradünnen Windbreaker aus Nylon dabei für den Fall, dass es in der Höhe zuziehen und winden würde, aber ich brauchte ihn nicht. Bei einem der ersten Zermatt-Läufe Anfang der 2000er herrschte auf den letzten Kilometern zum Ziel dichtes Schneetreiben, nachdem es unten in Strömen geregnet hatte. An solchen Tagen ist ein ausgefeiltes Bekleidungskonzept natürlich noch viel entscheidender.

Laufrucksack bzw. -weste ist ein gutes Stichwort. Die Verpflegungsstellen sind in Zermatt mit ca. 5-6km Abstand angenehm nah beieinander. An jeder gibt es Wasser, Isodrink und Bananen oder EnergyGel, teilweise auch warme Brühe und Schokolade. Man braucht also eigentlich keinen Laufrucksack. Viele nehmen wahrscheinlich aus dem selben Grund wie ich trotzdem einen kleinen mit - für eine warme Kleidungsschicht und den Lieblingsproviant. Ich mag die EnergyGels z.B. überhaupt nicht, liebe aber meine Koffein-Schokolade und andere Läufersüßigkeiten. Das kann mitunter mal entscheidend sein, wenn in späteren Streckenabschnitten das Essen schwer fällt, dann geht womöglich nur noch das rein, was man auch so wirklich gerne mag. Das ist aber sehr individuell verschieden und man sollte es vorher im Training für sich erprobt haben.
Eine Trinkblase halte ich bei den zahlreichen Verpflegungsstellen für unnötig, aber die kleine 0,5l-Trinkflasche aus dicker weiche Folie hat sehr gute Dienste geleistet. An allen Stationen habe ich zwei kleine Becher getrunken und ab der zweiten Hälfte immer meine 0,5l-Flasche auffüllen lasse. Ich habe versucht grob zu bilanzieren, bis zum Ziel habe ich so wahrscheinlich gut 6-7l getrunken. Viele schaffen es mit weniger, aber das provoziert aus meiner Sicht im Sommer nur unnötigen Leistungsverlust.

Der Flüssigkeitshaushalt ist bei den Langstreckenläufern eh immer ein zentrales Thema schon vor dem Lauf.
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Eine Stunde vor dem Start in St. Niklas. Die Schlange führt nicht wie man vielleicht meinen könnte zu "Info"-Tür, sondern zum Herren-WC.

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Selbst unmittelbar im Startbereich hat die Notdurft Tradition. Die meisten Veranstalter stellen hier in weiser Voraussicht zum Schutz der Umgebung zahlreiche Dixi-Klos auf.

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Erst dann kann sich alles entspannt im Startblock sammeln.

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 23.07.2018 - 07:55
von danimaniac
Respekt! Sehr schöner Bericht, und tolle Aktion.

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 23.07.2018 - 19:02
von skilinde
Was? Keine Restschneeabfahrt? Enttäuschend!

Spaß beiseite. VIELEN Dank für diese literarische Klasse.

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 23.07.2018 - 21:16
von EKL
Respekt für die Leistung, da kannst Du wirklich stolz drauf sein! Und natürlich sehr gut geschrieben, man bekommt einen guten Eindruck davon, wie es gewesen sein muss.

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 23.07.2018 - 23:49
von falk90
Respekt!
Seeeehr cool zum lesen, wenn ich mich doch nur hin und wieder zum Laufen aufraffen könnte (mit der Zeit würde es eh von alleine besser werden)

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 25.07.2018 - 15:51
von leiter
Coooool!

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 25.07.2018 - 19:50
von Talabfahrer
bastian-m hat geschrieben: 22.07.2018 - 23:36...
Und wir fahren über Bern und können so aus dem Zug beim wundervollen Aareschwumm zusehen. Wem das nichts sagt: Die Aare ist ein sehr sauberer Fluss, der mit angenehm zügiger Strömung Bern und das Umland durchschleift. Traditionell lassen sich im Hochsommer täglich hunderte Menschen über lange Strecken zügig quer durch die Stadt treiben, es gibt zahlreiche Ein- und Ausstiegsstellen.
...
Ich denke zurück an die Berge und das Aareschwimmen - noch nicht ganz zu Hause, träume ich schon wieder von der Schweiz.
Vielleicht kommt irgendwann der Tag. an dem ich einfach nicht zurückkehre.
Diese Sätze in Deinem tollen Bericht wecken auch bei mir eine ganze Palette von schönen Erinnerungen. Aaareschwumm in Bern - das ist einfach was Einmaliges; ich glaub, da muss ich doch mal wieder hin.
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Allein die derzeitige Wassertemperatur von ca. 21 Grad ist für den Fluss sensationell. Aktuelle Informationen gibt es auf der Aare-Bern Webseite.
Und der Bericht aus dem letzten Jahr vom BR ist große Klasse:
Direktlink

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 26.07.2018 - 18:13
von Mt. Cervino
Toller Bericht. Vielen Dank.
Auch wenn Laufen gar nicht mein Ding ist hab ich den Bericht mit viel Interesse gelesen und ich kann mir die Mühen die Strecke zu bewältigen sehr gut bildlich vorstellen. An die körperlichen Qualen will ich gar nicht denken.
Mit den Skiern (in wenigen Minuten) so einen Berg herunterzufahren ist das Eine, da hochzulaufen das ganz andere Sache.

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 26.07.2018 - 19:23
von judyclt
Sehr sportlich, Hut ab.

Ach die Aare, haben wir auch schon zu viert mit einem Schlauchboot für 2 gemacht. Mindestens einer hing immer außen dran. Da hatte es nur keine 21 Grad. :wink:

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 01.08.2018 - 16:18
von Finsteraarhorn
Toller Bericht, spannend zu lesen. Mal was ganz anderes und nicht die üblichen Bilder die man sonst immer sieht. Merci dafür.

Sehr schön der Beschrieb der Aare in Bern. Für mich immer wieder ein Highlight mit dem Zug über das Lorraineviadukt zu fahren, mit dem Münster vor der Alpenkette.
Nur die "hunderte Menschen" sind deutlich untertrieben. Es dürften aktuell einige Zehntausend sein. Die Temperatur der Aare in Bern aktuell bei sehr hohen 22°, gestern gar 22.7°.

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Live-Bild vom Marzilibad, welches wie alle Freibäder in Bern, bis auf eines, gratis ist.

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 01.08.2018 - 20:24
von Theo
5:45 sind für die Strecke mit den Höhenmeter für mich eine Wahnsinnsleistung. Bravo, sehr gut gemacht.
Dass der Marathon jetzt am Riffelberg endet anstatt auf dem Gipfel und um 500hm geschrumpft ist ist zahlreichen Vorkommnissen bei der zweiten Ausgabe geschuldet wo sich das OK meiner Meinung nach wie eine komplette Idiotentruppe verhalten hat. Hätte man den Marathon damals um 24h vom Samstag auf den Sonntag verschoben wäre es eine sensationelle Veranstaltung bei Prachtswetter gewesen anstatt dass er wegen eine Kälteeinbruch mit Schneefall im Fiasko endete und abgebrochen werden musste. Die total erschöpften Läufer welche sich oberhalb vom Riffelberg befanden mussten mit der Zahnradbahn eingesammelt werden ansonsten hätte es eine Katastrophe gegeben wie an der Zugspitze.

Die nun um 3.5km kürzer gewordenen Strecke musste nun halt mit einer Schlaufe in Zermatt selber ergänzt werden um wieder auf die Marathondistanz zu kommen.
Seit 2014 gibt es nun alle zwei Jahre die Ultraksversion mit den 46km und nochmals 500hm mehr mit Ziel am Gornergrat. Diese Version ist auf 600 Teilnehmer limitiert und schneller ausverkauft als der Rest der Veranstaltung.

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 02.08.2018 - 18:30
von Fab
TipTop!

Ein außerordenlicher Bericht aus meinem "Urlaubsheimatdorf" :D

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 05.08.2018 - 19:09
von k2k
Sehr schöner Bericht, vielen Dank!

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 05.08.2018 - 21:33
von kaldini
Toller Bericht, super geschrieben! Ich laufe zwar nur im Winter (ich hasse joggen, ist aber gut fürn Rücken und gegen Stress), aber deine Eindrücke bezüglich. Motivation bzw. dem inneren Schweinehund kann ich durchs Mountainbiken gut verstehen. Mir helfen da Podcasts bzw. wenn es ganz schlimm kommt, dann müssen meine Lieblingsbands ran. Kann mich noch an die Radtour zum Kaunertaler Gletscher vor 7 Jahren erinnern, viel zu wenig Training, zieht sich ewig und die steilen Stücke kommen erst am Ende - da lief dann mein damaliges Lieblingslied in der Endlosschleife auf voller Lautstärke. Bringt was :-)

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 08.08.2018 - 16:39
von molotov
Sehr guter Bericht, danke!
Meins wärs nicht, entweder flach und schnell oder ein richtiger Traillauf, war dieses Jahr zum dritten Mal beim WalserTrail dabei (die kurze Strecke mit 29km). Ich kann mich aber null motivieren vor der Haustüre kleine Hügel zu laufen. Gott sei Dank ist der Pfänder mit 600hm am Stück nicht weit weg und auch Hochgrat und Co. danken es mit kurzer Anfahrt.

Re: 7.7.2018 | Zermatt | So weit die Beine tragen - Ein Drama in vier Akten

Verfasst: 18.08.2018 - 10:07
von bastian-m
Ich hätte hier früher vorbeigucken sollen. Hab vergessen, die automatische Benachrichtigung bei Antworten zu aktivieren. Ich hatte nicht erwartet, dass der Bericht hier auf größeres Interesse stößt. Ich wollte ihn mehr für mich schreiben um das Erlebnis zur verarbeiten und konservieren. Mit der Konstruktion der Einleitung bis zum Start, wo ja erstmal unklar bleibt, um welche Aktivität und welches Ziel es sich überhaupt handelt, hätte in einem Laufsportforum nicht funktioniert. (danke an die nette PN von einem Forumaner der bis zum Überqueren der Startlinie dachte, wir bestiegen das Matterhorn) .Da erschien mir der weniger frequentierte Sommerbereich des geliebten Alpinforums als ein guter Ort um ihn unterzubringen. Freut mich, dass er dabei sogar noch einige erfreut hat.
skilinde hat geschrieben: 23.07.2018 - 19:02 Was? Keine Restschneeabfahrt? Enttäuschend!
2019 muss ich da wieder was machen, dass ist mir schon klar. Das ist diesen Winter eher zu kurz gekommen, aber es lag auch einfach viel zu viel Schnee dafür in den Alpen.
falk90 hat geschrieben: 23.07.2018 - 23:49 Seeeehr cool zum lesen, wenn ich mich doch nur hin und wieder zum Laufen aufraffen könnte (mit der Zeit würde es eh von alleine besser werden)
Das ist in der Tat richtig, dieser Sport wird nach einiger Zeit zum - achtung, flacher Kalauer - Selbstläufer. Da kriegt man dann viel mehr schlechte Laune, wenn es die Zeit oder eine Verletzung gerade nicht zulässt, auf die Strecke zu gehen.
Talabfahrer hat geschrieben: 25.07.2018 - 19:50 Diese Sätze in Deinem tollen Bericht wecken auch bei mir eine ganze Palette von schönen Erinnerungen. Aaareschwumm in Bern - das ist einfach was Einmaliges; ich glaub, da muss ich doch mal wieder hin.
Wir hatten tatsächlich geschaut, ob wir für an einem gemeinsamen freien Wochenende noch ein billiges Bahnticket ergattern, um nur fürs Aaareschwumm nach Bern zu fahren. Aber die freien Wochenenden sind eben noch spärlicher gesät als kurzfristig verfügbare Sparpreisticket bei der DB.
Theo hat geschrieben: 01.08.2018 - 20:24 Dass der Marathon jetzt am Riffelberg endet anstatt auf dem Gipfel und um 500hm geschrumpft ist ist zahlreichen Vorkommnissen bei der zweiten Ausgabe geschuldet wo sich das OK meiner Meinung nach wie eine komplette Idiotentruppe verhalten hat. Hätte man den Marathon damals um 24h vom Samstag auf den Sonntag verschoben wäre es eine sensationelle Veranstaltung bei Prachtswetter gewesen
Mir ist das Drama darum bekannt. Ganz ganz schwierige Entscheidung, die Sicherheit der Läufer ist natürlich stets oberstes Gebot. Ein kurzfristiges Verschieben auf den Sonntag hätte auf der anderen Seite aber auch großen Unmut verbreitet, eine wirklich große Zahl der Teilnehmer kommt von weit weg, hat den Sonntag für die Heimreise geplant und geht Montag wieder arbeiten. Ganz schwierig. Grundsätzlich dürfte das OK über die Jahre aber auch viel Erfahrung hinzugewonnen haben und entsprechende Notfallpläne in der Schublade haben. Aus der Perspektive von dem was man als Läufer wahrnehmen konnte, war die Veranstaltung vorbildlich organisiert und ich empfinde die Lösung mit der separaten Ultra-Distanz gut. Da wird in den Teilnahmebedingungen explizit darauf hingewiesen, dass sie sich jederzeit kurzfristig und auch während des Rennens vorbehalten, auch die Ultra-Distanz am Riffelberg enden zu lassen.
kaldini hat geschrieben: 05.08.2018 - 21:33 Mir helfen da Podcasts bzw. wenn es ganz schlimm kommt, dann müssen meine Lieblingsbands ran. Bringt was :-)
Definitiv. Ich habe für "Notfälle" immer entsprechende Playlists vorbereitet.
molotov hat geschrieben: 08.08.2018 - 16:39 Meins wärs nicht, entweder flach und schnell oder ein richtiger Traillauf, war dieses Jahr zum dritten Mal beim WalserTrail dabei (die kurze Strecke mit 29km).
Trailtechnisch gesehen ist Zermatt in der Tat kein besonderer Lauf, in der Tat. Da gibt es rein was die Wegbeschaffenheit angeht, sogar viel bessere Mittelgebirgsveranstaltungen. Der Zermatt-Marathon lebt wie das Dorf selbst auch durch das Gesamtkonstrukt aus Landschaft, Atmosphäre und Tradition. Das allerdings auch nicht zu Unrecht.


Schönes Wochenende!
Bastian