Unverständnis der Westdeutschen
Das andere Deutschland
Das Problem: Edmund Stoiber hat es im Osten mit Menschen zu tun, die er politisch nicht einschätzen kann. Warum der Ostwähler dem Westen ein Rätsel bleibt.
Von Annette Ramelsberger
Der Westen versteht den Osten nicht, und deshalb erkennt er die Menschen dort nicht an. Für den Hallenser Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz ist die Aussage von Edmund Stoiber, der Osten dürfe nicht die Wahl entscheiden, nur ein neuer Beweis für das Unverständnis zwischen Ost und West.
Der Plan der CDU, im Osten stärkste Kraft zu werden, sei nach dem Stoiber-Ausspruch „praktisch erledigt“, sagte Maaz. Der ostdeutsche Wähler – noch immer ist er für viele im Westen ein unbekanntes Wesen.
In der DDR war der Staat fern – so lange man nicht aneckte. Und die meisten verstanden es, nicht anzuecken. Der Staat, das war Erich Honecker, das waren „die da oben“. Die Mehrzahl fühlte sich als „wir hier unten“: die Nachbarn, die Familie, das Arbeitskollektiv.
Das Kollektiv als Korrektiv
Vor allem dieses Kollektiv erfüllte Aufgaben, die viel weiter gingen als der Westen sich das vorstellen konnte: Im Kollektiv feierte man Geburtstag und besorgte sich neue Fliesen fürs Bad, im Kollektiv wurde der gewarnt, der sich mit zu lauter Kritik gefährden konnte. Das Kollektiv stellte den Kollegen zur Rede, dessen Sohn am Abend vorher randaliert hatte.
Kurz: Das Arbeitskollektiv übernahm ganz wesentlich die soziale Kontrolle – oft mehr als die Familie. Es bildete eine Gemeinschaft, manchmal eine Notgemeinschaft.
Als die DDR unterging, zerbrachen die Firmen und mit ihnen die Kollektive. Plötzlich war jeder auf sich allein gestellt, musste sehen, wie er im neuen System überleben konnte. Die Gemeinschaft nützte nichts mehr. Das Pendel schlug ins Gegenteil aus, jeder kämpfte sich nun allein durch.
Und keiner kümmerte sich mehr darum, wenn draußen, vor den heruntergelassenen Jalousien, der Sohn des Nachbarn den Spielplatz verwüstete oder die jungen Nazis aus dem Dorf Menschen durch die Straßen trieben.
Es ist dieses seltsame Nicht-Berührtsein von dem, was um einen herum passiert, das zeigt, wie sehr das soziale Gefüge in den neuen Ländern gestört ist. Da sagt ein Familienvater in dem Dorf, in dem gerade neun Babyleichen gefunden wurden, man solle sich doch lieber um den geplanten Autobahnbau kümmern.
In Zerbst wird einem Jungen auf einem Heimatfest von Neonazis das Auge ausgeschlagen und die Polizei lobt, wie friedlich das Fest verlaufen sei. In Brandenburg wird ein Junge zu Tode gefoltert und der Bürgermeister sagt, in der Großstadt komme das doch jeden Tag vor. Natürlich gibt es Kindermord und Neonazis auch im Westen. Dieser Satz kommt immer, wenn Kritisches über den Osten gesagt wird.
Bleibt er aus, ist die kollektive Empörung aller ostdeutschen Ehrenmänner und -frauen sicher. Aber es ist nun einmal so: Der Niedergang der DDR hat nicht nur dazu geführt, dass leistungsfähige Menschen ihr Glück in blühenden Landschaften überall in der Welt suchen konnten, der Niedergang hat auch mental verwüstete, entzivilisierte Landschaften hinterlassen, in denen es keine soziale Kontrolle mehr gibt – vor allem auf dem flachen Land.
Plötzlich galten Werte nichts mehr: Die sozialistischen waren untergegangen, christliche gab es in einem weitgehend entkirchlichten Land kaum mehr. Was zählte, waren in erster Linie Erfolg und Geld. All das, was in den Zeiten des Kollektivs unter dem Stichwort Zusammenhalt, Gemeinsamkeit, Kultur lief, auch wenn es oft eine staatlich erzwungene Kultur war, wurde zur Seite gestellt wie ein altes Requisit.
Sozialforscher nennen dieses Wertevakuum das Fehlen der Zivilgesellschaft. Viel zu wenige fühlen sich für das Gemeinwesen verantwortlich. Es gibt wieder nur die eigene Familie und weit weg da oben den Staat. Der wird entweder total ignoriert oder bestraft: durch Wahlverweigerung oder durch Protestwahlen.
Keine festen Lager
So erklärt sich auch das Wahlverhalten der Ostdeutschen, das dem Westen so unberechenbar scheint. Mal bekommt die rechtsextreme DVU in Sachsen-Anhalt aus dem Stand 12,9 Prozent. Dann zieht die NPD in den Landtag von Sachsen ein, dafür wird die SPD dort mit 9,8 Prozent zur Kleinpartei.
Immer wieder erringt die PDS weit über 20 Prozent. Es gibt keine festen Lager wie im Westen. Es ist das, was einem Edmund Stoiber so unheimlich ist. Er hat es im Osten mit Menschen zu tun, die er politisch nicht einschätzen kann.
Viel gefährlicher aber als dieser mentale Graben zwischen Ost und West ist, wenn sich in ostdeutschen Landstrichen eine Gesellschaft etabliert, der die Gemeinschaft größtenteils egal ist. Die ihr Heil nur im Erfolg sieht und für alles jenseits des eigenen Vorgartens den Kanzler verantwortlich macht.
(SZ vom 12.8.2005)