
Er war der Welt um Lichtjahre voraus: Vor 100 Jahren weihte Bauer Robert Winterhalder in Schollach den ersten Skilift der Welt ein
/ Von Stefan Hupka
Nur die ganz harten Burschen kommen angeblich ohne aus. Der Berg, den sie hinunterwollen, den stapfen sie vorher hoch. Respekt. Das macht sie zu besseren Menschen und das lassen sie die schlechteren auch gerne spüren. Der große, faule, verweichlichte Rest der ski- und snowboardbesessenen Menschheit aber kann sich ein Leben ohne ihn schlechterdings nicht vorstellen — den Skilift. Es mag Gründe geben, im Hochhaus die Treppe zu nehmen statt des Fahrstuhls und für den Schulweg das Rad, nicht den Bus. Aber ein Leben ohne das technische Hilfsmittel — sagen wir ruhig, die zivilisatorische Errungenschaft — namens Skilift wäre für die Abfahrer unter den Wintersportlern ganz und gar widernatürlich und geradezu deprimierend.
Sicher, so ein Skilift macht Lärm, verbraucht Strom, nervt das Wild, schadet dem Wald und der Wiese. Aber, Entschuldigung, er ist nun mal ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Faktor zur Beschleunigung des Daseins, und um nichts anderes geht es dem Wintersportler.
Es ist sein Rausch: Rauf, runter, rauf, runter, rauf, runter — ohne Rast und Ruh, bis der Abend kommt. Hier geht es nämlich gar nicht um Bequemlichkeit, sondern im Gegenteil darum, keine Zeit zu verlieren. Und schon der Autostau ins Skigebiet, das Warten in der Liftschlange oder das Kriechtempo von Liften älteren Baujahrs sind ja qualvolle Zeitverschwendungen.
"Jeder Wintersportsfreund hat es gewiss schon als unangenehm empfunden, dass dem unvergleichlichen Vergnügen einer Talfahrt mit den Skiern oder dem Rodel ein mühsamer Bergstieg von vielleicht zehnfach längerer Dauer gegenübersteht, der ihn dies Vergnügen teuer erkaufen lässt." Dieser Mann hat es erfasst, und zwar als Erster! Und für das Folgende sollte man beim Vatikan seine Heiligsprechung beantragen. "Es lag also nahe, auf Mittel und Wege zu sinnen, wie diesem Übelstande abzuhelfen wäre und es ist dem Unterzeichneten durch langjährige Versuche gelungen, ein Verfahren zu erfinden, durch welches der Sportsfreund auf die denkbar einfachste Art auf dem Rodel sitzend oder auf den Schneeschuhen einzeln wieder auf die Höhe geschafft wird. Es geschieht dies durch eine kontinuierlich sich bewegende Drahtseilbahn mit Anhängevorrichtung für Rodler und Skiläufer, die eine fortwährende Benützung des Aufzuges ohne Unterbrechung ermöglichen." Rodel, Bergstieg, Übelstande? Nun, diese spätgotisch klingenden Worte sind ziemlich genau hundert Jahre alt und der "Unterzeichnete" , der sie aufgeschrieben hat, ist kein Geringerer als der Erfinder und Erbauer des ersten Skilifts der Welt: Robert Winterhalder aus Schollach im Schwarzwald. Schon 1908, lange Jahre und Jahrzehnte bevor es am Feldberg oder in den Alpen die ersten Lifte gab, betrieb Winterhalder am Hang vis-a-vis seines Schneckenhofs eine "Aufzugbahn für Rodler und Skiläufer" . Nicht etwa, weil er ein fauler Mensch gewesen wäre, zu faul, den Berg hochzu-stapfen, sondern weil er Letzteres aus der Sicht des rasanten, rauschhaften Wintersports einfach für nervtötend hielt. Und hat er nicht recht?
Seinen Grips hat der Mensch dazu, dass er sich seinen Buckel nicht krumm schuften muss. Nach diesem universalen Erfinderprinzip hat sich Robert Winterhalder — laut Schollacher Ortschronik der 15. Bauer des landwirtschaftlichen Familienbetriebes und Gasthauses Schneckenhof — schon vor seiner epochemachenden Erfindung die Arbeitsmühsal leichter zu machen versucht. Weil er wenig Lust hatte, seine Getreidesäcke von der Scheuer auf dem Buckel zur hundert Meter entfernten Mühle zu schleppen und dann wieder die Mehlsäcke zurück in die Scheuer, und auch keinen höheren Sinn darin sah, einem Knecht diese Arbeit aufzuhalsen, hatte er seine Wassermühle schon 1900 zu einem kleinen Kraftwerk umgebaut.
Mit Wasserkraft und einem von Umlenkwellen getriebenen Endlosdrahtseil fuhren fortan die schweren Säcke am Haken vom Hof zur Mühle und zurück. Bewohner der Nachbarhöfe sollen nicht wenig neidisch gewesen sein.
Freilich wissen wir nicht, welche hohe Meinung der Wirt Winterhalder von der Fitness seiner Kurgäste im Schneckenhof hatte — die oft mit Asthma- und Kreislaufproblemen aus den Städten heraufkamen, um sich an der frischen Schwarzwaldluft hier oben zu kurieren — und ob ihm da eventuell Assoziationen zu den Mehlsäcken kamen. Tatsächlich ist der Skihang gegenüber dem Schneckenhof mit seinen 32 Metern Höhenunterschied bis hinauf zum Waldrand nicht das, was man eine schwarze Abfahrt nennen würde und wäre auch ohne Lift keineswegs unbezwinglich. Aber es ging diesem Erfinder schon immer um mehr: um Spaß, Hightech, intelligente Lösungen und natürlich auch ums Geschäft.
Und sein 280 Meter langer Schlepplift, der am 14. Februar 1908 eingeweiht wird, entwickelt sich tatsächlich zum Publikumsmagneten. Einen Beleg dafür liefert Carl August Riedlinger, ein Journalistenkollege vom Badner Land — Illustrierte Zeitschrift für Wandern und Reisen, Industrie, Handel und Verkehr, der sich im Winter 1913/14 zu einer Recherchereise nach Schollach aufmacht. Der Mann — erkennbar ein Städter oder gar Flachländer — ist schlicht begeistert von allem, was er da antrifft, vom funkelnden Schnee, der Bergwelt und vom Erfinder und seinem Lift. Er schwärmt von der herrlichen Aussicht, die man vom Steinbühl oder Hochberg bei Schollach über den südlichen Schwarzwald hat, und von der "Alpenaussicht, wie sie nur ganz wenige Punkte im Schwarzwald und den Vogesen haben." Er erwähnt, dass "Freiburger Studenten allwöchentlich von Samstag bis Montag nach dem idyllischen Schwarzwaldtal kommen, um Wintersport zu treiben" . Und er lässt sich von Schneckenwirt Winterhalder die legendäre "Drahtseilaufzugbahn" vorführen.
Man spürt zwischen den Zeilen direkt den Kick, den es damals bedeutet haben muss, sich einem solch unheimlichen Fortbewegungsmittel anzuvertrauen, das einen als Ski- oder Schlittenfahrer mit atemraubenden 1,80 Metern pro Sekunde nach oben zerrt (Heutige Kuppelsessellifte sprinten mit dem dreifachen Tempo). Auch der Beschwichtigungston damaliger technischer Anleitungen ist ein Indiz dafür. Da steht zum Beispiel: "Skiläufer packen einfach den hölzernen Handgriff, stehen stramm auf den Skiern, nehmen an den steilen Stellen zweckmäßigerweise Hockestellung ein und lassen sich hochziehen. Die Fahrt wird durch einfaches Loslassen der Hände beendigt, so dass jede Gefahr ausgeschlossen wird. Auch besteht die Möglichkeit jederzeit bei Unterbrechung der Fahrt seitlich auszuweichen."
Winterhalders Liftkunde Riedlinger vom Badner Land jedenfalls war schnell in Sicherheit zu wiegen und für den neuen Komfort zu begeistern, er fuhr förmlich drauf ab und sein Reisetag flog nur so dahin. "Ich muss sagen, dass mir alles den günstigsten Eindruck machte. Man setzt sich auf den Rodelschlitten, lässt sich vollständig ungefährlich von der Drahtseilbahn etwa 400 Meter hinaufziehen (hier hat sich der Reporter verschätzt, es waren nur 280 Meter), fährt von oben ideal zu Tal und wiederholt dies Manöver, bis einen die Dunkelheit überrascht."
Dann aber schildert der Kollege entrüstet eine Ungeheuerlichkeit, die viel darüber verrät, warum der geniale Erfinder des Skilifts nicht etwa verdientermaßen steinreich, hochdekoriert und der Gründer eines globalen Seilbahnimperiums wurde, sondern der 15. Schneckenhofbauer blieb und heute weithin unbekannt. "Ein Hofrat aus Karlsruhe" , berichtet Riedlinger, "der vor einiger Zeit die ganze Anlage ebenfalls besichtigte, sagte zum Erfinder: Die Sache ist gut, aber es fehlt der Hintergrund. Sie sollten Doktor, Ingenieur oder wenigstens Techniker sein! Ja, lieber Schneckenwirt, wir leben eben in der Doktor-Zeit; von einem, der nicht einmal allerwenigstens Doktor ist, kann doch nichts Gutes kommen. Die von Gott gegebene Intelligenz oder die Praxis machen’s nicht, der Titel macht die Blinden sehend."
Winterhalder muss ein sehr fröhlicher, freundlicher Mensch gewesen sein. Sonst hätte er diesem vorlauten Hofrat aus Karlsruhe wohl den Hals umgedreht. Vielleicht lesen wir dieses Zitat aber auch so, dass dieser Akademiker aus der Residenzstadt seine Analyse bitter-ironisch meinte und sich gemeinsam mit dem Erfinder über die schleppende Verbreitung des Schlepplifts und deren Gründe den Kopf zerbrach. Denn in der Tat hielt Winterhalders wirtschaftlicher Erfolg nicht annähernd Schritt mit seinem genialen Erfindergeist und -fleiß.
Zwar hatte er für seine Erfindung am 16. März Patentschutz beantragt und erhalten, nicht nur im Deutschen Reich, auch in Frankreich, Norwegen, Österreich, Schweden und der Schweiz. Auch durfte Winterhalder bei der internationalen Wintersportausstellung 1910 in Triberg einen Lift auf Eisenträgern bauen, für den er vom Badischen Großherzog sogar mit der goldenen Ausstellungsmedaille ausgezeichnet wurde. Es war ein von einem 15-PS-Elektromotor angetriebener Schlepplift, der auf einer Strecke von 250 Metern eine Höhendifferenz von 85 Metern schaffte und 35 Ski- und Schlittenfahrer gleichzeitig aufnehmen konnte.
Doch Winterhalders Versuche, andere Interessenten für sein Patent und vor allem Investoren zu gewinnen, zum Beispiel auf dem Feldberg, blieben erfolglos. Er war der Erste, der einen Schlepplift auf dem Seebuck bauen wollte, und das hätte auch gut gepasst, denn an dessen Fuße hatte sich rund um das Hotel "Feldberger Hof" schon seit Jahren eine Art frühes Schwarzwald-Ischgl entwickelt: ein Stelldichein von Ski-Snobs aus ganz Deutschland und vor allem aus dem nahen Freiburg.
Seit ein gewisser Dr. Robert Pilet, ein französischer Botschaftsbeamter, am 8. Februar 1891 dort winters auf Skiern aufgetaucht war — eine Fortbewegungsart, die er sich bei den Norwegern abgeschaut hatte — , war der Trend nicht mehr aufzuhalten, und der Schwarzwald wurde zur Wiege des deutschen Skisports. Der Skiclub Schwarzwald hatte 1905 bereits 1550 Mitglieder, die anderen Schneeregionen Deutschlands zogen erst allmählich nach. Zumal in München und den bayerischen Alpen war noch nicht annähernd so viel los.
Ein Schlepplift auf dem Seebuck hätte den Feldberg, Winterhalder wusste das, mehr als das verträumte Schollach es je konnte, zu einem Skisportmekka gemacht. Er legte sogar Prospekte auf und rechnete den fremdelnden Hoteliers akribisch vor, was man mit einer solchen Anlage verdienen kann: Bei einem Preis von 20 Pfennig pro Auffahrt kam er auf einen jährlichen Gewinn von 5400 Reichsmark. Dem standen Investitionen von 20 000 Mark gegenüber, davon 12 000 Mark für die "Hardware" der Anlage, also Fundamente, Seile, Träger, 4000 Mark für je 100 Rodelschlitten und Paar Skier zum Ausleihen sowie noch einmal 4000 Mark für die Lizenz beziehungsweise Gewinnbeteiligung. In gut vier Jahren hätte sich ein solcher Lift amortisiert. Und um ausreichend Schnee im Schwarzwald war damals noch niemandem bang.
Aber dann kam der Erste Weltkrieg, der Spaß war vorbei, die Kundschaft musste an die Front — und Winterhalders Lifte in Schollach und Triberg bald auch: sie wurden in den Zeiten allgemeiner Metallknappheit abgebaut und eingeschmolzen, für die Rüstungsindustrie. Es war das Ende von Winterhalders Erfindung, auf Jahrzehnte hinaus. Der 15-jährige Patentschutz lief aus, ohne dass sich jemand dafür interessierte. Er selbst, geboren 1866 als fünftes von elf Kindern des Nikolaus Winterhalder und der Maria Magdalena Dold, lebte und bewirtschaftete den Schneckenhof bis 1932. Sein Enkel Klaus (67) und Bauer Nr. 17, der den Großvater nicht mehr erlebt hat, weiß vom Hörensagen, dass dieser seine gute Laune nicht verlor. Bauer Nr. 15 blieb ein umtriebiger Mann, er war nicht nur stellvertretender Bürgermeister, auch Dirigent des Kirchenchors und des Gesangvereins von Schollach und begeisterter Klavierspieler. Und wenn es sich ergab, unterhielt er abends damit stundenlang die Kurgästeschaft in seinem Schneckenhof.
Robert Winterhalder, Erfinder, verkanntes Genie und Revolutionär des Skisports, war seiner Zeit weit voraus, schätzungsweise vier Jahrzehnte. Die Skiwelt war noch nicht reif für ihn — und manchmal auch einfach zu borniert und auf Doktortitel fixiert. Erst 1951, bestätigt Günther Schmidt, Hauptamtsleiter in Altglashütten, wurde auf dem Seebuck der erste Sessellift gebaut, ihm folgte der erste Schlepplift an der Grafenmatt im gleichen Jahr.
Am nächsten Donnerstag würde Winterhalders futuristische Aufzugbahn 100 Jahre alt. Und Politiker würden schwärmen: innovativ, ökologisch vorbildlich, weil getrieben von erneuerbaren Energien, ein Beitrag zum sanften Tourismus sowie beispielhaft zur ökonomischen Absicherung eines landwirtschaftlichen Familienbetriebs. Wie wär’s, wenn man Herrn Robert Winterhalder aus Schollach zur Feier des Tages postum den Innovationspreis des Landes Baden-Württemberg verliehe? Herr Minister Pfister, übernehmen Sie!
wenn der wüsste, was es heute so alles gibt...
