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Ski im Ruhrgebiet - Teil 1 | Vom harten Leben in der Großstadt (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 12:33
von bastian-m

Eine kleine Geschichte mit Video am Ende
Das Ruhrgebiet und seine Bewohner hatten es nie leicht. Wir haben vieles und noch mehr nicht. Das kulturelle Leben ist lebendig und bunt, man hat einen besonderen Blick für das Schöne weil das Hässliche häufig ist, man muss damit leben, dass wer nie hier war es sich völlig anders vorstellt und wir sind längst entwachsen aus der Zeit wo der Satz "Das hätte ich ja nicht gedacht, dass es hier so viel Grün gibt" etwas Neues ist. Der Weg in die Alpen ist weit, die Winter mild und wenn mal Schnee fällt, verwandelt er sich meist noch bevor er den Boden berührt in ein graues matschiges etwas. Doch nicht in diesem Februar, in dem sowieso alles anders ist als sonst.
Meine Tage sind lang, das Tageslicht noch immer knapp und an jenem Abend als meine Frau sagt sie muss noch etwas in Ruhe lesen, ich soll doch noch "ne Runde um die Kemnade drehen", da erwacht ein alter Trieb. Die Kemnade meint den Kemnader See, ein Stück aufgestaute Ruhr im Bochumer Süden. Einmal drumherum sind es 8 oder 10km, je nach dem welche Brücke man nimmt, und weil der Rundweg durchgängig beleuchtet ist, ist es gerade im Winter wenn es mit den üblichen Feierabendzeiten bereits dunkel wird oder ist, einer der zentralen Treffpunkte der Läufer der Stadt. Die Langstrecken- und Geländeläufer (ich bin ausgerechnet auch noch beides) können den See am Ende des Winters meistens nicht mehr sehen, man ist die Runden auf dem flachen Asphaltband einfach leid.

Um die Zeit ist der Parkplatz sonst vollgeparkt. Heute hat es nur vereinzelt jemanden hierher verschlagen. Ein Vater der sein Kind auf einem Schlitten zieht kann die Frage seines Sprösslings nicht recht beantworten was der Mann da macht, als ich meine Tourenski auffelle.

Und dann stehe ich wieder auf den Brettern - am See in meiner Heimat im Flachen, aber ich habe die Ski an den Füßen und unter ihnen ist Schnee. Das erste Mal seit Januar 2020, das Jahr das keines war hat mich zur längsten Skipause seit dem Winter 1990/91 gezwungen.

Links das Wasser, rechts die Hänge der kleinen Hügel des Bochumer Südens. Eine Treppe führt hinauf und sie ist eingeschneit. Wer hätte gedacht, dass ich zu Hause jemals die Steighilfen an meiner Bindung ausklappe.

Klappt aber wunderbar.

Die Stirnlampe leuchtet die Richtung entlang des kleinen Pfades durch den Ilex.

"Hoch" oben - im Ruhrgebiet sprechen wir bei 50m tatsächlich von "hoch"
Der Klang der Stadt ist gedämpft durch den Schnee, eine seltene Licht- und Tonkulisse. Das sonst leise Rauschen der Autobahn 43 auf der anderen Seeseite ist nur noch ein Flüstern.

Der beleuchtete Rundweg sieht aus wie ein Band aus Licht.

Die Uni Bochum - mit 43.000 Studierenden ist sie eine Stadt in der Stadt. Keine Augenweide, aber auch sie ein Stück Kultur.

Vorne rechts im Bild erkennt man einen kleinen Betonpfeiler und weiter hinten im Wald im Lichtkegel so einen schrägen Betonträger. Sie gehören zu etwas mit Vergangenheit.

Noch vor dem zweiten Weltkrieg, damals als in den Alpen noch ausschließlich das Vieh statt Touristen gemolken wurde, hatte das Ruhrgebiet sie längst: Seilbahnen. Und sie waren nichts besonderes und teils viele Kilometer lang und schon damals echte 2S-Bahnen mit Kuppelklemmen. Nur an Tourismus dachte niemand dabei.

Diese Allee bin ich im Sommer schon so oft gelaufen und an Hitzetagen ist es stets eine willkommene Schattenpassage.

Am Ruhrlandheim, eine Einrichtung der Diakonie für Menschen mit geistiger Behinderung, ziehe ich die Felle ab - mancher würde sagen, es sei eine passende Kulisse dafür. Dann geht es wahnsinnige 50 Höhenmeter einen sonst asphaltierten Feldweg vorbei an zwei Wohnhäusern hinab zurück an den See und mit dem letzten Schwung bis auf einen vereisten Steg quasi bis aufs Wasser. Das soll mir in Norwegen erstmal einer nachmachen!

Im Skatingschritt geht es am Wasser entlang, ab hier noch 6km bis zum Auto. Ich fand manche Diskussionen um 20m "unkomfortable Schiebestrecken" beim Neubau irgendwelcher Sessellifte immer schon grotesk (die damals vom Neubau der Rotadelbahn im Stubaital hat sich irgendwie besonders eingebrannt)
Der Segelhafen ist verwaist. Die durchgängige Lichtspur in der Bildmitte ist die Fußgängerbrücke an der Wehranlage

Den Schnee von der Brücke hat der Ostwind abgeblasen, aber es gibt eine richtige Eissicht, die vollkommen ausreicht.

Mit ein bisschen gutem Willen könnte es auch ein Fjord sein.

"Vorsicht, starkes Gefälle" - der Todesberg mit mindestens 5 Höhenmetern hat schon so manchen Inlineskater die knöcherne Integrität seines Handgelenks gekostet.

Wenn man am oberen Ende des Sees angekommen ist, führen zwei Arme der Ruhr als Zulauf hinein. Hier gibt es keine eigene Fußgängerbrücke sondern die einladende Konstruktion eines Stegs, der Hängend unter die Brücke der Autobahn 43 montiert ist. Über eine kurze, zum Skaten knapp zu schmale Rampe, stochere ich etwas ungelenk hinauf.

Ich hatte es befürchtet - weder Eis noch Schnee. Ich muss abschnallen. Der Tourenskifahrer hat es nicht leicht in der Großstadt.

Dann geht man wieder eine Rampe runter und steht zwischen den beiden Ruhrarmen. Der 10km-Weg führt rechts rum ein Stück die Ruhr aufwärts bis zu einer Fußgängerbrücke. Ich nehme die kürzere Variante und gehe geradeaus die nächste Rampe wieder hoch. Hier ist kein Mensch - selbst den friedlichen Brücken-Junkies ist es heute offenbar zu kalt.

Der zweite Steg ist nicht beleuchtet - da die offizielle Runde nur über den ersten führt. Für ein Landei ohne Stirnlampe wäre es vielleicht ein bisschen gruselig. Über mir rauscht der Verkehr der A43.

Die Abfahrtrampe ist weiß - nur dieses Quergatter unten ist etwas hinderlich.

Langsam nähere ich mich wieder dem Ausgangspunkt.

Der Bochumer Südgrad - der Todesaufstieg vom Beginn.

Die Lichter des Parkplatzes läuten das Ende der Runde ein und verheißen ein Getränk am Kofferraum. So wie nach jedem Lauf.
Direktlink
Mit dem Handy in der Hand und auch auf selbigem zusammengetackert - aber wie immer reicht es für den Eindruck.
Teil 2 ist mittlerweile hier erschienen:
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 13:33
von Kapi
Großes Kino! Danke dafür.
K.
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 13:39
von ralleycorse
Mei oh mei.
Respekt für die sicherlich recht anstrengende Ski-"tour"-runde!
Toll geschrieben zeigt es deutlich auf wie weit man geht wenn die Leidenschaft sonst einfach zur Zeit nicht auszuleben ist.
Und steht im harten Gegensatz zu den "bester Skitag ever" oder "when dreams come true" Berichten aus den geliebten Bergen...
Gruss,
der Lange
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 14:21
von Pistencruiser
Perfekt, da werden Heimatgefühle geweckt.
Wieviele hundert Runden ich wohl schon auf Inlinern (sowie laufender und spazierender Weise) um diesen See gedreht habe? Wahrscheinlich kaum zu zählen...
Leider gab es früher die Abendbeleuchtung noch nicht und der Steg unter der Autobahn war noch mit Holz beplankt - was die Sache bei Nässe ziemlich glitschig gemacht hat auf den Rampen (aber beim Inlinern ist man meist eh die größere Runde gefahren)
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 19:57
von Kerker
Kann man den Danke-Button auch mehrmals drücken? Ganz große Klasse!!!
Bei deiner Abfahrt sieht man andere Skispuren - waren da noch mehr Verrückte unterwegs oder ist das deine Aufstiegsspur?
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 20:09
von bastian-m
Kerker hat geschrieben: 10.02.2021 - 19:57
Bei deiner Abfahrt sieht man andere Skispuren - waren da noch mehr Verrückte unterwegs oder ist das deine Aufstiegsspur?
Ne, mein Aufstieg war durch den Wald. Die Abfahrtsspuren sind ziemlich sicher von solchen Plastik-Bobs.
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 20:23
von Gletscherfloh
Genial. Danke fürs Berichten und Dokumentieren.
Ganz im Sinne von "Carpe Diem".
Ich bin ja selbst im Hügelland außerhalb der Alpen aufgewachsen und kann das daher vollkommen nachvollziehen wie schön es sein kann, mal außerhalb der "typischen" Regionen eine Skitour zu unternehmen.
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 20:33
von skilinde
Klasse. Richtig Klasse. Du bist bekloppt - ich beneide Dich darum.
Solche Verrückte wie Du... davor wird der Vater sein Kind gewarnt haben, denn man weiß ja nie was die sonst noch so tun.
Aber mit dem Kommentar zur Uni Bochum hast Du es doch mit deiner Heimat etwas arg gut gemeint. Immer wenn ich mich über die Hässlichkeit meiner Uni Do aufgeregt hatte, hat ein Trip nach Bochum zur Uni gereicht und die Uni Do war danach praktisch die schönste Uni der Welt
Eine hässlichere Uni als Bochum hab ich noch nicht gesehen, Bielefeld und Siegen bewegen sich auf ähnlichem Niveau.
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 21:50
von bastian-m
skilinde hat geschrieben: 10.02.2021 - 20:33
Klasse. Richtig Klasse. Du bist bekloppt - ich beneide Dich darum.
Solche Verrückte wie Du... davor wird der Vater sein Kind gewarnt haben, denn man weiß ja nie was die sonst noch so tun.
Das ist Blödsinn, ich nehme mir manchmal nur einen kurzen Korridor. Ansonsten habe ich ein ganz normales spißbürgerliches Leben Marke Häuschen in der Spielstraße im Vorort usw.
Die RUB und ihr Beton ... ja ... aber ich führe ins Feld, dass keine der Ruhrgebiets-Unis einen nur annähernd so schönen Blick von der Außenterrasse der Mensa bietet (Ruhrtal/Kemnade). Ansonsten muss man sich zweifelsohne darauf berufen, dass wohl innere Werte zählen. Wobei die ersten Neubauten mittlerweile ganz ansehnlich sind. Ich denke in ca. 20 Jahren ist die RUB baulich halbwegs erträglich.
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 10.02.2021 - 22:14
von Kris
In der andauernden Corona Krise gilt umso mehr: The survivial of the fittest. Nein, nicht physisch, sondern im Geist!
Die Fähigkeit im derzeit Gegebenen das kleine Geniale zu entdecken - das ist Größe!
Womit das kleine Geniale der Abendaktion aufgewertet wird hin zum vermeintlich Großen der unerreichbaren Ferne ...
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 11.02.2021 - 07:47
von skilinde
bastian-m hat geschrieben: 10.02.2021 - 21:50Die RUB und ihr Beton ... ja ... aber ich führe ins Feld, dass keine der Ruhrgebiets-Unis einen nur annähernd so schönen Blick von der Außenterrasse der Mensa bietet (Ruhrtal/Kemnade). Ansonsten muss man sich zweifelsohne darauf berufen, dass wohl innere Werte zählen. Wobei die ersten Neubauten mittlerweile ganz ansehnlich sind. Ich denke in ca. 20 Jahren ist die RUB baulich halbwegs erträglich.
Dann habe ich ja (in ca. 20 Jahren) mein ganzes Berufsleben damit verbracht aus der RUB mit meinen Steuergeldern aus einem Studenten-Suizid-HotSpot der 90er etwas baulich halbwegs erträgliches zu machen.
Und nochmal: Du bist (positiv) bekloppt und ich beneide Dich darum.
Und was kommt als nächstes? Nachdem jetzt ja Wetter und Bochum mit Fjord, ääähhh Ruhrblick, erledigt sind, könnte doch was Richtung Herdecke oder Hohensyburg gehen?
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 11.02.2021 - 22:26
von SkiBird
Hast Du was mit der nachfolgenden Dame zu tun, bastian-m?
https://www.waz.de/staedte/essen/essene ... ervice=amp
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 13.02.2021 - 08:48
von bastian-m
Witzig, die kenne ich glaube ich tatsächlich flüchtig über drei Ecken - selber Beruf, selbe Fachrichtung und erstaunlicher Weise ziemlich identische Entfernung bis zur Arbeit.
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 13.02.2021 - 10:48
von Zottel
Ganz so schlimm, wie in deinem ersten Absatz beschrieben, ist es hier aber nicht - zumindest nicht überall.
Richtig ist natürlich, dass “wir“ “hier“ eigentlich nie vom Schnee verwöhnt werden. Ausnahme ist dieses Jahr, heute liegt das weiße Gold bereits seit 7 Tagen. Da viele Nachbarn und Dienstleister es erst nach 4 bis 5 Tagen geschafft hatten, die Straßen und Fußgängerwege freizuräumen, konnten wir diese Woche die meisten Einkäufe per Schlitten erledigen. Eine völlig neue Erfahrung 
Beim vielen Gerede über die RUB krieg ich richtig Heimweh. Ich denke, sobald es wieder geht, fahre ich mal auf einen Karamell-Macchiato hin.
Re: Tourenski im Ruhrgebiet | Vom harten Leben in der Großstadt - Teil 1 (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 16.02.2021 - 19:51
von bastian-m
Zottel hat geschrieben: 13.02.2021 - 10:48
Beim vielen Gerede über die RUB krieg ich richtig Heimweh. Ich denke, sobald es wieder geht, fahre ich mal auf einen Karamell-Macchiato hin.
Sind wir genug AFler im Ruhrpott für ein RUB-Mensa-Forumstreffen?
Re: Ski im Ruhrgebiet - Teil 1 | Vom harten Leben in der Großstadt (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 16.02.2021 - 22:43
von Zottel
Ich würde mir meinen damaligen Geheimtipp holen: Nudeln mit Bolognese- und Käsesoße. Und weil man von den Nudeln nie nachhaltig satt wurde, noch etwas von der Frontcooking-Station
Re: Ski im Ruhrgebiet - Teil 1 | Vom harten Leben in der Großstadt (Bochum - 8.2.21)
Verfasst: 16.02.2021 - 22:52
von easyrider
Danke für die Bilder und Worte. Cool, wenn man ungewöhnliche Gegebenheiten - in diesem Falle der anscheinend seltene Schnee in dieser Ecke Deutschlands - speziell nutzt.