Ich hatte trotz wenig Zeit eigentlich das Maximum aus den für das Ruhrgebiet ungewöhnlichen Schneemengen herausgeholt (hier & hier). Der Wetterbericht kündete bereits vom nahenden Verderben der weißen Pracht zum Wochenstart. Was soll da jetzt schon noch kommen? Ideen hatte ich keine. Martin schon.
Aus dem früheren "Wir feiern durch und gehen am nächsten Morgen arbeiten" ist mit den Jahren ein gutbürgerliches "Wir arbeiten durch und gehen am nächsten Morgen schlafen" geworden. Als meine Frau und ich uns Sonntag morgen nach unseren Nachtdiensten in der Küche trafen, wollte wohl keiner von uns aussprechen, dass wir keine Begeisterung mehr für das Vorhaben unseres Freundes Martin aufbringen konnten und ich leitete aus dem Wetterbericht sowieso ungeeignete Bedingungen ab. Er hatte am Vorabend emsig bei Google Maps die Satellitenbilder der unmittelbaren Umgebung durchforstet auf der Suche nach geeigneten Wiesen. Und bevor einer von uns nein sagte, kamen per WhatsApp die Koordinaten, Treffpunkt 10:30 Uhr. Zu spät, da müssen wir nun durch, hilft nur Kaffee statt Bett. Anfahrt 4 Minuten - oh den Acker kenne ich, da führt eine meiner Laufstrecken entlang, ich hielt ihn spontan für ungeeignet.
Auch das ist ganz klassisch Ruhrgebiet - das unmittelbare Nebeneinander von urbanem und sehr ländlichem Siedlungsraum. Ich wohne genau an einer solchen Grenze - 10min in die eine Richtung und ich bin in der Bochumer Innenstadt, 5 min in die andere und ich stehe vor einem Bauernhof.
Wenn die Sonne nicht wäre, würde ich wohl schlafend hinter dem Steuer hängen während wir auf Martin warten. Ich schlendere ein wenig griesgrämig ein paar Meter in den Feldweg, kicke mit dem Fuß einen Pferdeapfel durch den Schnee und schaue missmutig auf den teils eingezäunten Acker, eine Schafherde und einen Misthaufen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das der Ort für Spaß werden wird. Es sind 0 Grad, es geht kein Lüftchen. Letzteres ist schlecht, ganz schlecht. Und dann biegt Martin um die Ecke. Er ist ausgeschlafen und hat diese ansteckende Euphorie - nicht diese "hey was kostet die Welt"-Euphorie, mehr jene "Die Frau spielt mit dem Kind, ich darf spielen gehen"-Euphorie. Wir werden halt alle älter. An einem Strauch bewegt sich für zwei Sekunden der oberste kleinste Ast in einem Hauch von Wind. "Siehste, ich sag doch da geht was." Er hat es doch geschafft mich anzustecken, meine Mundwinkel zeigen langsam nach oben.
Na gut, dann versuchen wir es eben. Falls wir den dürfen, denn wir wollen den Besitzer schon fragen, bevor wir seine Wiese verwüsten. Wir beschließen, Tanja alleine vorzuschicken, in unserer Vorstellung wirken Frauen in Verhandlungen mit Landwirten erfolgsversprechender. Als sie nach ein paar Minuten nicht zurückkommt wird sie in meiner Phantasie gerade von einem Uralten Bauern auf ein Herrengedeck (Pils + Korn) eingeladen um wohlwollend über unser Anliegen zu verhandeln. Aber sie ist nur auf dem falschen Gehöft gelandet, die Wiese gehört dem Nachbarn.
Als sie gerade zurückkommt, wird es etwas lauter und ein paar quietschende Kinderstimmen sind zu vernehmen. Der offensichtliche Besitzer biegt mit seinem Traktor um die Ecke und zieht eine wachsende Kette aus Kindern auf Schlitten hinter sich hier. Auf Tanjas Winken hält er natürlich sofort an. "Moin. Is datt ihre Wiese?" Für einen kurzen Moment schaut er zwar wie "Ne, ich hab den Trecker bei Eurocar gemietet und fahre gerne damit über fremde Felder" aus, sagt dann aber "Jo, is et. Watt willse?" Er findet unsere Idee witzig, der Deal steht.
Klamotten aus den Autos auf das Feld schlörren. Mehr Zeug als wenn man Skifahren geht.
Denn wir haben was anderes vor. Martin und meine Frau sind Kitesurfen, richtig gute. Ich habe mir irgendwann überwiegend aus Anstand Ausrüstung zugelegt und Unterricht genommen, aber bis heute behagt mir der Aufenthalt auf bzw. in meinem Fall eher in und unter Wasser in seinem flüssigen Aggregatzustand nicht besonders, aber immerhin weiß ich mit den Jahren, wie die unterschiedlichen Meere und Tümpel der Welt schmecken, denn man schluckt relativ viel davon, wenn man von diesen Monsterdrachen unbarmherzig herumgeschliffen wird. Es ist nicht so als ob ich nicht gerne Kitesurfe, aber ein wenig auf dem badewannentiefen Ijsselmeer hin- und herfahren erfüllt mich ausreichend, der Versuch über die Brandung an der Küste Teneriffas zu springen brach zwar nicht meine Vorbehalte, dafür aber eine Rippe. Die zusätzlichen Zugkräfte einer nur leichten Steigerung der Windgeschwindigkeit können enorm sein falls man den Schirm gerade in einen ungünstigen Winkel gestellt hat.
Was auf dem Wasser funktioniert, funktioniert natürlich auch auf Schnee - wer sich für die Thematik interessiert, findet zahlreiche beeindruckende Videos der Könner bei YouTube, die Freaks düsen damit nicht nur durch die Ebene, sondern fliegen über Felsen, klippen und ganze Wäldchen. Wir wären heute froh, wenn der "Wind" überhaupt ausreicht, dass die Schirme wenigstens in die Luft gehen und dann auch oben bleiben.
Wir haben jeweils die größten Schirme aus unserem Repertoir dabei - 12qm Fläche haben sie. Tanjas Schirm neben Martin veranschaulicht grob die Dimensionen.
Eigentlich reicht der Wind nichtmal zum Starten, aber mit Geduld reicht es dann doch irgendwann und Tanjas Schirm ist in der Luft. 25m lang sind die vier Leinen, zwei davon sind mit der Lenkstange verbunden, die beiden Zugleinen sind mit einer Art Ring am Haken des Hüfttrapezgurtes verbunden.
Und dann fährt sie tatsächlich. Nicht begeisternd schnell, aber Tanja kitet auf ihrem Snowboard über eine Wiese im Ruhrpott.
Und dann steht auch Martins Zebra am Himmel...
...und irgendwann auch mein Schirm.
Ein bisschen mehr Wind dürfte es schon sein, aber zum hin- und herfahren reicht es. Ich fühle mich wohl auf meinem schneegewordenen Ijsselmeer.
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Reicht es auch den anderen? Am Ende des Tages zählt doch eigentlich nur der WAF - der "Woman acceptance factor". Und den kann sie heute nicht leugnen- trotz grenzwertig wenig Wind und ohne Schlaf.
Langsam wird es Zeit zum Abbauen. Und zum schlafen. Aber was hätten wir heute anderes tun sollen, denn morgen wird es dem Schnee an den Kragen gehen.
Ziel erreicht, die Wiese ist umgepflügt.
Jetzt brauchen wir nur noch jedes Jahr so eine Winterwoche.