Chronologie einer alpinistischen Grenzüberschreitung
Die Geschichte des Alpinismus ist reich an Träumen und Tragödien. Jede Kultur hat ihre Schicksalsberge, die Briten versuchten sich Jahrzehnte am Mt. Everest, scheiterten 1924 grandios durch George L. Mallory und Sandy Irvine, erst 1953 bezwangen sie den Berg nach vielen Bemühungen durch den (immerhin dem Commonwealth angehörigen) neuseeländischen Bienenzüchter Edmund Hillary und den Sherpa Tensing. Viele Deutsche mussten am Nanga Parbat ihr Leben lassen, bis ebenfalls 1953 der Österreicher Hermann Buhl den Gipfel erreichte. Auch in Europa gab es Berge und Wände, die sich lange Zeit einer Besteigung erwehrten, allen alpinistisch Interessierten wird die Eiger-Nordwand ein Begriff sein, die nach zahlreichen Tragödien erst im Sommer 1938 von Heinrich Harrer, Fritz Kasparek, Anderl Heckmair und Wiggerl Vörg durchstiegen wurde. Generationen von Bergbegeisterten haben in unzähligen Büchern die Erlebnisse dieser Pioniere verschlungen.
Weiße Flecken auf der Landkarte wurden in den Jahrzehnten alpinistischer Expeditionen und Erschließungen immer seltener, und auch die alpinistische Erlebnisliteratur wandelte sich. Einerseits gab und gibt es immer noch die Profis, die bekannte Ziele über immer schwierigere Routen bei immer gefahrvolleren Bedingungen anstreben, andererseits mehren sich Berichte von versierten Laien, die den Versuch, ihre persönlichen Gipfelziele zu erreichen, in Form von teils dramatischen Erlebnisberichten auf den Buchmarkt bringen. Vielen wird noch der Weltbestseller von Jon Krakauer über die Tragödie am Mount Everest im Mai 1996 in Erinnerung sein, in den darauffolgenden Jahren kam fast von jedem, der zu diesem Zeitpunkt auch auf dem Berg gewesen war, ein weiteres Buch zu diesem Thema auf den Markt.
Auch wenn häufig von „Laien“ die Rede ist, die sich einen Achttausender „gekauft“ und damit das Unglück teilweise verschuldet hätten, so darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich hierbei doch um durchtrainierte und versierte Bergsteiger handelte.
Aber auch absolute „Laien“ und Gelegenheitsbergwanderer haben alpinistische Ziele, die über die Jahre für sie Kultstatus erreichen, über die viel geschrieben und gelesen wird, bis sie sich für manche zu mythischen „heiligen Bergen“ entwickeln. Nicht länger sind es Länder oder Nationen, die sich durch die Eroberung eines Berges ein Kapitel in der Chronik des Alpinismus sichern wollen, heute gibt es auch gänzlich anders geartete übernationale Interessensgemeinschaften wie etwa das Alpinforum, die sich Ziele in eisigen Höhen suchen und sich dann mit aller Anstrengung bemühen, diese zu erreichen.
Während einige dieser Gegenden durch die Popularität im Forum auch bald von mehreren „Expeditionen“ erfolgreich besucht wurden, zu nennen wäre etwa die Punta Indren südlich des gletscherbedeckten Monte Rosa, widersetzten sich andere Plätze nachhaltig allen Begehungsbesuchen und bildeten fürderhin gleichzeitig weiße Flecken auf den Landkarten des Forums und Punkte der Sehnsucht für viele Mitglieder.
Vom Versuch der alpinistischen Eroberung eines dieser Plätze handelt der vorliegende Bericht., der sich aus gekürzten Auszügen eines sicherlich bald in den Bestsellerlisten der Bergliteratur zu findenden Buches zusammensetzt.

Geographisches und Historisches
Nördlich vom italienischen Domodossola zweigt von der Simplon-Route bei Preliga das Valle Antigorio ab, das schließlich ins Val Formazza übergeht. Gegen Norden wird dieses Tal durch eine Kette von 3000-ern überragt, zu nennen wären (von West nach Ost) Blinnenhorn (3373m), Rothorn (3289m), Bättelmatthorn (3043m) oder Grieshorn (2969m), die Gipfel dieser Berge stellen auch die Grenze zur Schweiz dar. Saumpfade führen zwischen den Gipfeln ins Wallis (Griespaß) und ins Tessin (Passo San Giacomo), letzterer wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Mussolini zu einem Fahrweg ausgebaut, ein Anschluß auf der Schweizer Seite wurde jedoch niemals auch nur in Angriff genommen.
In den 50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde das bis dahin ursprüngliche und stille Val Formazza durch einige große Kraftwerksprojekte erschlossen, Staumauern und –seen entstanden, Versorgungsbahnen wurden errichtet.
Erst in den 70-er Jahren erhielt der Tourismus durch den Bau einiger neuer Schutzhütten in diesem Gebiet einen größeren Stellenwert.
3A und das Alpinforum
trincerone, späterer Italienexperte des Alpinforums, hatte bereits 1999 beim Wandern von einem Refugio namens 3A in knapp 3000 m Höhe am Rand des Siedelgletschers, ital. ghiacciaio dei camosci (nach anderer Bezeichnung auch Gems-Gletscher) erfahren, ebenso von einem zur Hütte gehörigen Gletscherskilift. In einem französischen Skiforum (skipass) postete er zu diesem Thema, die Existenz eines Liftes in der Nähe der Hütte wurde bestätigt, ebenso wurde von Snowboard-Camps berichtet, die dort im Juli stattfinden würden.
Im Dezember 2003 stieß k2k, Moderator im Alpinforum, zufällig auf diesen Thread und schrieb darüber im Topic „Vergessenes Sommerskigebiet an der schweizer.-ital. Grenze“.
http://www.alpinforum.com/forum/viewtop ... io&start=0
Allgemeines Interesse im Forum kam auf, eine Expedition dorthin wurde für den darauffolgenden Sommer geplant.
Am 9. 2.2004 registrierte sich trincerone im Alpinforum und stieg noch am ersten Tag in oben angeführtem Thread ein, indem er Teile der Diskussion von 1999 im französischen Forum übersetzte.
In den darauffolgenden Monaten wurde mehrfach versucht, nähere Informationen durch Kontaktierung des Refugios zu erlangen, jedoch stellte sich kein rechter Erfolg ein und auch die geplante Wanderung dorthin kam nicht zustande. Dafür mehrten sich die Gerüchte, der Lift wäre nicht mehr in Betrieb, es sollte aber eine Ersatzanlage gebaut werden und 2005 in Betrieb gehen. Immer wieder tauchten Bilder aus verschiedenen Quellen auf, jedoch konnte kein sicherer Beweis für oder gegen die Existenz eines neuen Liftes gefunden werden.
G´s Einstieg
Im Dezember 2004 stieß G. durch einen link auf einer anderen Skiliftseite aufs Alpinforum und registrierte sich schon nach wenigen Tagen. Ob des umfangreichen Materials dauerte es einige Zeit, bis er auf besagtes Topic stieß, jedoch hatten sich seit dem April des vergangenen Jahres keine neuen Informationen ergeben. Ab Februar 2005 kam wieder Leben in die Sache, doch noch immer wusste niemand, ob nun ein neuer Lift gebaut worden war oder es überhaupt möglich wäre, dort als Gruppe oder Einzelperson Skifahren zu können.
G. verfolgte die Diskussion mit Interesse und Spannung.
starli`s Scheitern
Im Juni 2005 wurde nun der erste ernsthafte Versuch unternommen, das Geheimnis im Rahmen eines Lokalaugenscheins zu lösen. Starli, Spitzenreiter im Post-Ranking, Extremskifahrer und überzeugter Alkoholgegner plante eine große Autotour durch die Westalpen, auf der er zahlreichen Gletscherskigebieten einen Besuch abstattete und seinen Ford Fusion über steile und ausgesetzte Paßstraßen quälte. Gleich zu Beginn dieser Reise setzte er seinen Versuch an, das Rifugio 3A zu erreichen, am 23.6.2005 verließ er nach langer Fahrt um 14:30 sein an der Staumauer des Lago di Morasco geparktes Auto in westlicher Richtung. Jedoch die Voraussetzungen waren ungünstig. Erstens war es wohl schon zu spät für den Auf- und Abstieg am gleichen Tag, andererseits machten ihm Kreislauf und Verdauung schon nach 400 Höhenmetern so zu schaffen, daß er schweren Herzens aufgeben mußte. Obwohl er wußte, daß das Ziel für ihn im Rahmen dieser Reise wohl unerreichbar bleiben würde, unternahm er dankenswerter Weise am darauffolgenden Tag noch einen Erkundungsgang von Schweizerischer Seite, vom Nufenenpaß aus marschierte er über den Griespaß und dann weglos auf den Geröllhalden unterhalb des Grieshorns, um wenigstens einen topographischen Eindruck vom Gletscher liefern zu können. Auch auf diesen Bildern konnte zwar ein Lift vermutet, sein Zustand aber nicht näher geklärt werden.
Der Plan
G. verfolgte Starlis Pläne und Unternehmungen mit großem Interesse, und als er traurig von dessen Scheitern lesen musste, reifte in ihm der Wunsch, selbst einen Versuch zu wagen. Nachdem er wie Starli von großen Expeditionen mit vielen Teilnehmern und Trägerkolonnen für feste, flüssige und höherprozentige Verpflegung nichts hielt, würde er keine lange Vorbereitungszeit benötigen. Für ihn kam die Eroberung von 3 A nur als rein alpinistische Unternehmung in Frage, wenig Gepäck, keine Verwendung von am Berg installierten Fixseilen (Anm. der Redaktion: gemeint sind die ohnehin nicht für die Öffentlichkeit benutzbaren Kraftwerksbahnen), letztere sollten bei Gelegenheit lediglich zu Forschungszwecken begutachtet werden, die Versorgung sollte – zur Förderung der vorhandenen Einrichtungen – weitgehend aus der Region erfolgten, das heißt. G. wollte versuchen, sich nach Art der dort Einheimischen in den Berghütten zu verpflegen. Langjährige Beobachtungen bezüglich Wetter- und Lawinensituation standen nicht zur Verfügung, so entschied sich G. aufgrund seiner reichen Erfahrung und seines untrügbaren Instinkts, die Anreise am Nachmittag des 16. Augusts 2005 zu beginnen und den Gipfelsturm am 17. August 2005 anzusetzen. (Anm. der Redaktion: möglicherweise war auch entscheidend, dass er diesen und die darauf folgenden Tage – im Gegensatz zu seiner Frau – Urlaub hatte). Der Aufstieg sollte vom Nufenenpaß seinen Ausgang nehmen, die Krönung des Unternehmens würde eine Übernachtung in der sagenumwobenen 3A-Hütte sein, am darauffolgenden Tag würde ihn der Weg wieder zurück ins Basislager und von dort zu weiteren Unternehmungen in der Region führen.
Gefährten
Auch wenn Alleingänge alpinistisch besonders reizvoll sind, entschied sich G. , das Wagnis dieser forumsmäßigen Erstbegehung nicht allein auf sich zu nehmen. Mallory und Irvine waren gemeinsam gescheitert, Hillary und Tenzing erlebten zu zweit den Augenblick des Triumphes. G. musste aber feststellen, dass geeignete Expeditionsbergsteiger kurzfristig nicht so leicht verfügbar sind.
Nach einigen Absagen fand er schließlich in A. einen Partner, von dem er sich die ideale Ergänzung für die gefahrvolle Unternehmung erhoffte.
Er kannte A. schon seit dessen Jugend und hatte auch schon einige einfache Touren mit ihm gemacht. G. war sicherlich der alpinistisch Versiertere der beiden, jedoch hatte er den Zenit seines Bergsteigerlebens schon erreicht, wenn nicht sogar überschritten. Seine letzten größeren Unternehmungen lagen Jahre zurück, heuer war er – abgesehen von einigen Skitouren in den Niederösterreichischen Voralpen und seinen „normalen“ Skiurlauben noch nie in größere Höhen gekommen, auch das für den Sommer geplante regelmäßige Lauftraining hatte nicht immer so stattgefunden, wie er sich das vorgenommen hatte.
A. konnte die seiner Jugend wegen noch geringe Erfahrung durch eine nahezu unerschöpfliche Kondition und eine unerschütterlich gute Laune in allen Lebenslagen wettmachen. So sollte die Begehung des Siedel-Gletschers ihre erste gemeinsame alpinistische Großtat werden.
to be continued