Die uralten Bretter sind ziemlich ulkige Dinger, viel Spaß damit

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VOM ALTEN SKI
Der mitteleuropäische Skilauf ist in den letzten fünfzig Jahren geworden. Er hat sich in der Zeit der großen technischen Fortschritte der Kulturmenschheit entwickelt. Diese Entwicklung spielte sich schon ab im hellen Lichte der Lampen, sie spielte sich ab im Rampenlicht einer sensationshungrigen Presse. Kaum denkbar, das irgendeine Entwicklungsstufe nicht verzeichnet sein sollte...Es ist denn auch leicht eine Geschichte des mitteleuropäischen Skilaufs in großen Zügen zu schreiben. Verborgen geblieben ist so gut wie nichts...Man sollte glauben, es wäre so...Und doch: So leicht es ist, die Entwicklung im Großen zu verfolgen, so schwer ist es, sie im Kleinen zu erfassen.
An vielen Orten, fast zur gleichen Zeit, haben die »Pioniere« des neuen Gerätes ihre ersten Versuche unternommen. Aber fast überall hatte die Umwelt nur wenig Verständnis für dieses Beginnen. fast überall galten die ersten Skiläufer als mehr oder weniger harmlose Narren. Ihr Tun und Treiben hielt man nicht der Berichterstattung und der Überlieferung für wert. Und sie selbst gaben ihre Versuche meist sehr bald wieder auf. Es ist äußerst reizvoll, der Geschichte des Skilaufes in einem kleinen Gebiet einmal nachzugehen. Ich selbst habe dies in den letzten Jahren in Graubünden getan. Es war überraschend, was da alles zu entdecken war. Noch ist gerade noch Zeit für derartige Kleinarbeit. Wohl sind freilich fast alle, die man die »Ersten« nennen kann, schon gestorben. Auch von ihren Zeitgenossen leben nicht mehr viele. Aber immerhin kann man noch manches erfahren - das Meiste freilich aus Überlieferung zweiten Grades - von denen, die es auch schon erzählt bekommen haben. Aber jede Überlieferung wird alsbald zur Sage, zum Märchen: schwer ist es, Dichtung und Wahrheit zu scheiden.
Eines aber trügt nicht: das Gerät! Und darum bin ich dem Gerät nachgegangen; den alten und ältesten Ski, die vergessen in verstaubten Speichern schliefen. Und es war überraschend, was da noch zu finden war! Aus der Fülle der Formen will ich einige besonders seltsame und bemerkenswerte herausgreifen und in Wort und Bild hier schildern. In Davos fanden sich noch die allerersten Ski, die wohl je sich in diesen Ort verirrten: Lappenski, die ein Patient dem Doktor Alexander Spengeler, dem eigentlichen Gründer von davos, geschenkt hatte, und mit denen des Doktors Sohn im Jahre 1873 die ersten, bald wieder aufgegebenen Versuche unternahm. Es sind Flachlandski von ganz typischem Bau. das Material ist Föhrenholz, heute noch schmiegsam und harzreich! Die beiden Ski sind von ungleicher Länge. Der eine (ob der rechte oder linke, ist nicht festzustellen) ist 285 Zentimeter lang und wiegt 2500 Gramm, der andere ist 258 Zentimeter lang und wiegt genau so viel - aber nur, weil seine Spitze mit schwerem Kupferblech beschlagen ist; nieten dienen zur Befestigung und nicht Nägel. Wozu dieser Beschlag as kann ich nicht sagen, denn die Spitze ist durchaus heil und gesund, weist nicht den kleinsten Riß auf. Die Bindung besteht ausschließlich aus einem breiten Lederriemen. Dieser »Bügel« liegt bei dem einen Ski 12 Zentimeter hinter der Mitte (Gesamtlänge gerechnet), bei dem anderen fast in der Mitte des Ski. Er geht durch ein Stemmloch, das aber nur das konvexe Oberprofil durchbohrt. Als »Fußplatte« ist Renntierhaut aufgenagelt. Die Ski sind vorne und hinten aufgebogen (hinten etwas weniger); sie haben keine Spanne, im Gegenteil: sie wölben sich unter dem Fuß, wo sie auch am breitesten sind. Die vordere Spitze ist lanzettförmig, die hintere spitzeiförmig. Die größte Breite des längeren beträgt 10 Zentimeter, die des kürzeren 9,5 Zentimeter. Sehr sonderbar ist das Qerprofil, das eine ganz breite, flche Rinnenhöhlung zeigt. Dementsprechend ist jeder Ski fast der ganzen Länge nach gewölbt. Ob der eine (der kürzere) als »Abstoß-Ski« ursprünglich mit Fell bekleidet war, das läßt sich nicht mehr sehen. Dr.Spengler glaubt, daß dies der Fall gewesen. Beide Hölzer sind in ganz flacher Schnitzerei (eigentlich sind sie nur geritzt) sehr reich verziert. Abgesehen von Linienverzierungen, sind die einzelnen rechteckigen Schmuckfelder mit bildlichen Darstellungen versehen: eine Lappenhütte, ein Haus, ein Tannenbaum, ein Renntiergeweih, ein Zweikampf, ein Schlitten mit vorgespanntem Renntier.
Etwas ganz Merkwürdiges gelang es in Sils-Maria zu finden!
Dort hat sich, zunächst ohne jegliche Beeinflussung von außen her, der Ski aus der denkbar möglichen Urform zu einem ganz brauchbaren Gerät entwickelt. Es ist zu berichten: Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts wanderte ein Schreiner nach Sils ein. Er führte den ungewöhnlichen Namen Samuel Hnateck und kam - aus Berlin. Er war ein sehr guter und geschickter Arbeiter. Ihm kam der Gedanke, man müsse mit einem Brett über den Schnee gleiten können. Tatsächlich hat er 1860 die allerersten »Ski« - wohl die ersten in der Schweiz überhaupt - hergestellt. Sie sind einfach genug: ein 3 Zentimeter dickes, von vorn bis hinten 14 zentimeter breites und 170 Zentimeter langes Tannenbrett, ohne Spitze, ohne Aufbiegung, nur vorne und hinten abgeschrägt. genau in der Mitte ist ein Lederbügel aufgenagelt...Viel einfacher ist es nicht möglich, und es herrscht kein Zweifel, das dieser Berliner Schreiner nie in seinem Leben einen Ski gesehen hatte. das Laufen mit diesen Dingern kann kein Spaß gewesen sein. Sein Nachbar Johann Eggenberger d.Ü. (gestorben 1875) kam dann auf die Idee, diesen Brettern vorne in ganzer Breite die Hälfte einer hölzernen Tortenschachtel aufzusetzen. Da das auch nicht ging - denn der Vorsatz brach immer wieder - so versuchte er es mit Blech, zuerst in ganzer Breite, dann als richtige Spitze, aber das Blech verbog sich...Die Ski wurden aus Arven- oder Lärchenholz gefertigt und hatten bereits eine Art Absatzkappe aus Blech oder aus Holz. Solche Ski sind tatsächlich benützt worden.
Es kann uns nicht wundern, daß dieses Skilaufen bald wieder einschlief. 1892 sah dann Chr.Zuan in deutschen Zeitungen Bilder vom Skilaufen in Norwegen. Er suchte die alten Ski (von Eggenberger d.Ä. gearbeitet) seines Vaters Paul wieder hervor, erkannte, daß der schwächste Punkt die Spitze war und ließ von seinem Freund, dem Schreiner und Bergführer Johann Eggenberger d.J., massive, nicht gleichmäßig gebogene, sondern gewinkelte Spitzen aufschrauben. Ein solches Paar Ski ist noch erhalten. Länge: 169 zentimeter, größte Breite an der aufgewinkelten und aufgeschraubten Spitze 9 Zentimeter, unter dem Fuß 8 Zentimeter und hinten 7 Zentimeter. Alle Linien verlaufen gerade, ganz ohne jede Schweifung. Ganz selbstverständlich und gradlinig geht die Entwicklung von diesem Modell zum Ski, der keine aufgeschraubte Spitze hat, sondern der im eigenen Holz aufgewinkelt ist. Ein solcher Ski aus dem Jahre 1895 hat folgende Maße: Länge 212 Zentimeter, größte Breite (19 Zentimeter hinter der Spitze) 9,5 Zentimeter, unter dem Fuß 8,5 Zentimeter, hinten 6,5 zentimeter. Die Form bleibt genau dieselbe: ganz gerade Linien. A.Robbi in Sils ließ dann Ende der neunziger Jahre ein Paar Ski von Jakober (Glarus) kommen und nun hatte Eggenberger ein brauchbares Vorbild. »Die Sache breitete sich immer mehr aus. Wir wurden allerdings ausgelacht und bespöttelt, und wenn wir uns den Hals gebrochen hätten, so wären wir kaum beklagt worden.« So steht es zu lesen in der Familienchronik des heute 75jährigen Bergführers Zuan, dem ich viel Nachrichten aus jener sagenhaften Zeit verdanke. Jakober in Glarus hatte von Norwegen nicht nur die Telemarkform der Hölzer, sondern auch die Rohrbügelbindung übernommen. Sie kann leicht von jedem Sattler gemacht werden; es ist also nicht verwunderlich, daß auch Eggenberger alsbald seine Machwerke mit dieser »Bindung« ausstattete. Bald fand man freilich, daß sie für alpines Gelände nicht genug Führung gibt. Und bei Jakober in Glarus enstand die »Kappenbindung«.
Im Schwarzwald wie im Engadin wurde sie schnell nachgemacht. Die Bindung, die ich hier im Bilde zeige, stammt aus dem Jahr 1900 (oder 1901?) und wurde auf ein Paar Ski montiert, das Peter Fopp, Schreinermeister in Pontresina, aus Eschenholz nach einem Wiener Modell von Thonet hergestellt hatte. Sie besteht aus seitwärts beweglich aufgeschraubten Eisenringen. Durch diese gehen doppelt genommene, sehr breite und kräftige, verstellbare Riemen, die über den Vorfuß laufen und die eine ganz gute Einwirkung auf die Hölzer ermöglichen. Dies um so mehr, als sie unterstützt werden durch eune ungemein kräftige Fersenkappe. Diese besteht aus schwerstem Leder mit einem Ristriemen und ist noch verstärkt durch einen Eisenbügel. Die Kappe ist aufgenietet auf eine dreifache Sohle (doppelter Balata-Riemen und Leder!). Diese Sohle ist ihrerseits mit einer Eisenplatte 5 Zentimeter vor dem Fuß aufgeschraubt. Zwischen Balata und Leder liegt unter dem Absatz des Fußes noch ein flacher Holzkeil. Dieser zwingt den Fuß in eine leicht gehobene Stellung. Das erscheint uns heute natürlich als Fehler - weil unser Skifahren zum großen Teil aus Schwingen besteht. Andererseits ist diese Fußstellung für das Bergaufgehen ganz angenehm. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum dieser auffallende Keil eingeschoben ist. Mit dieser Bindung sind wir bei den Modellen aus Pontresina angelangt. Hier hat sich schon im Jahre 1895 der bekannte Führer Schocher (Martin) als Ski-Schreiner versucht. Sein Vorbild waren wohl gleichzeitig die Ski, die sein Mitbürger Fopp aus Wien hatte kommen lassen und die bei der Jugend gebräuchlichen »Faßdauben«. Jedenfalls sind die Ski, die er machte, eine seltsame Mischung aus ganz hübscher Formgebung des Holzes (abgerundete Spitze, die gleichmäßig aufgebogen ist, geschweifte Linien und Spanne!) mit einer sehr einfachen Bindung, die aus einem alten Bergschuh besteht.
Der Schuh ist aufgeschnitten, mit der Sohle aufgeschraubt und hat noch einen Ristriemen bekommen. In diesen offenen Schuh tritt man mit dem eigenen Skischuh und schnallt ihn sich fest. Das gibt gar keine schlechte Führung, aber nur eine sehr beschränkte Möglichkeit der Fußbiegung nach vorne - und ist natürlich bei größeren Geschwindigkeiten nicht ganz ungefährlich. Ein Paar solcher Ski (für einen Knaben gemacht und entsprechend kurz) sind noch im Besitz des Führers Julius Rähmi in Pontresina. Er sagte mir, daß er sie ganz tüchtig benutzt hat - bis er 1902 ein Paar »echte« bekam, die er auf der ersten Fahrt schon zerbrach. O Schmerz laß nach...
Alle die weiter oben beschriebenen Ski sind ja an und für sich merkwürdig genug. Aber sie alle werden in den Schatten gestellt durch ein Paar aus Campfèr. Dieses Paar ist nicht nur beachtenswert, es ist - wie soll ich sagen? - »rührend«. In diesem damals sehr weltabgelegenen Dörfchen hatten die Knaben in der Schule (in der die romanischen buben Deutsch studieren mußten!) ein Heldengedicht auswendig lernen müssen. das war im Jahre 1893, und das bekannte Gedicht schildert, wie ein Norweger, der gezwungen wird, seines Landes schwedische Feinde zu führen, sie alle und sich selbst auf rasender Skifahrt über eine Felsstufe in den Tod stürzt. Aus dieser Ballade schöpften die Jungen den Gedanken, sich auch Ski zu machen. Ihre Namen sind: Gian Signorell, Christoffel Signorell, Christian Müller und Gian Müller. Gebogen wurden die Hölzer mit dem heißen Wasser der Mutter in der Waschküche des Hauses Signorell. Diese musealen Ski sind heute noch in Campfèr zu sehen. Sie stammen aus dem Jahre 1892 oder 1893, und man muß sagen, der Ski selbst ist gar nicht schlecht geraten. Die Hölzer (Lärchenholz) sind 159 Zentimeter lang, sind unterhalb der geradlinigen und aufgewinkelten Spitze 7 Zentimeter breit; unter dem Fuß sind sie am breitesten ( Zentimeter) und am Ende messen sie 7,5 Zentimeter. Alle Linien verlaufen gerade, ungeschweift. die Bindung freilich ist ein merkwürdiges Kunstwerk aus allerlei riemenzeug, und als Fußplatte diente ein altes Stück Teppich. Die Buben sind aber damit gelaufen - wie lange, weiß ich nicht. ich könnte noch von manch anderem Ski aus dem Engadin erzählen; hier wurde nur eine kleine Auslese des Bemerkenswertesten zusammengestellt. es ist wohl kein Zweifel, daß ich noch lange nicht alles »erfaßt« habe. Wie manches alte »Brett« mag in Kellern und auf Speichern vermodern und verstauben - und es wäre wert, daß es einen Platz bekäme in dem schönen Engadiner Museum, daß heimatliebende Männer in St.Moritz errichtet haben.
Henry Hoek
Artikel aus »SPORT IM WINTER« Anfang April 1933