Trotz Klimaerwärmung und stockendem Wintertourismus planen viele Skigebiete Aus- und Neubauten. Bergbahnfirmen sehen darin ein qualitatives Wachstum, Umweltverbände ein sinnloses Wettrüsten.
«Alles fährt Ski, alles fährt Ski, Ski fährt die ganze Nation!»: Der weitherum bekannte Evergreen ist Schnee von gestern. Die meisten Skigebiete in den Schweizer Alpen kämpfen mit Überkapazitäten, die Nachfrage stagniert seit Ende der 80er-Jahre. Trendsportarten wie Carving oder Snowboarding haben zwar frischen Wind auf die Pisten gebracht, die rückläufige Zahl der Skifahrer aber kompensieren sie nicht.
Trotz dieser Entwicklung hat die Schweizer Alpen in den letzten Jahren eine Planungslawine für den Bau neuer Skigebiete erfasst: Zur Diskussion stehen 53 Erweiterungen von Skigebieten, 34 Skigebietsverbindungen, 18 Erschliessungen im Hochgebirge sowie 8 Vorhaben, die gänzlich neue Skigebiete aus dem Boden stampfen wollen. Total geht es um 113 Projekte. Geschätzte Kosten: 3,5 Milliarden Franken. Ein grosser Teil dieser Projekte, 80 an der Zahl, hat bereits Eingang gefunden in die kantonalen Richtpläne.
Auch im Berner Oberland und in der Zentralschweiz soll es mit dem Wintertourismus steil bergauf gehen. Aus diesem Grund haben die vier Bahngesellschaften Bergbahnen Engelberg-Trübsee-Titlis AG, die Sportbahnen Melchsee-Frutt sowie die Sportbahnen Hasliberg Käserstatt AG und die Meiringen-Hasliberg-Bahnen AG im Sommer 2003 beschlossen, ihre Skigebiete innerhalb der nächsten sieben bis zehn Jahre zum kantonsübergreifenden «Schneeparadies Hasliberg-Titlis» zusammenzuführen. «Wer die Kräfte nicht bündelt, fährt in Zukunft unweigerlich Verluste ein», begründet Projektleiter Arnold Kappler den Zusammenschluss.
Grösser, schöner, besser
Vorgesehen sind eine Vergrösserung des bestehenden Pistensystems auf eine Gesamtlänge von 210 Kilometern (heute 162) sowie der Bau von acht Sesselbahnen und einer Pendelbahn. Die Promotoren versprechen sich viel vom etwa 50 Millionen Franken teuren Ski-Eldorado: mehr Attraktivität, erhöhte Kapazitäten, eine grössere Auslastung ihrer Bahnen, insgesamt also eine verbesserte Wertschöpfung.
Die hochfliegenden Pläne sind Ausdruck eines gnadenlosen Verdrängungswettkampfes. Viele Skigebiete genügen den Ansprüchen der Touristen nicht mehr. Der moderne Wintersportler fährt auf eine grosse Pistenvielfalt ab, er fordert Schneesicherheit, er will genügend Transportkapazität, kurze Wartezeiten und ein hohes Mass an Komfort. Die Initianten der geplanten Schneearena «Hasliberg-Titlis» wissen um diese enorme Erwartungshaltung. «Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt», ist Projektleiter Kappler überzeugt.
Wettrüsten bedroht Natur
Diese Einschätzung trifft nicht überall auf Zustimmung. «Das Wettrüsten in der Tourismusindustrie bedroht unberührte oder traditionell genutzte Landschaften im Alpenraum, im Fall des geplanten ‹Skiparadieses Hasliberg-Titlis› die wunderschöne Engstlenalp», warnt Rico Kessler, Projektleiter Umweltpolitik bei Pro Natura. Bereits heute stehe das Tourismusetikett der Schweiz als heile Alpenwelt in eklatantem Widerspruch zu den Fakten in der Landschaft. Zu diesem Schluss kommen nicht nur besorgte Umweltschützer wie Kessler, sondern auch unabhängige Gremien wie die «Environmental Performance Review» der OECD, die der Schweiz im Bereich Natur- und Landschaftsschutz ein schlechtes Zeugnis ausstellt.
Der Vorstoss des alpinen Massentourismus in immer neue Gebiete zeitigt ernsthafte Konsequenzen für das sensible Ökosystem der Alpen. So zerstören präparierte Pisten empfindliche Böden, Drainagen verändern den Nährstoffkreislauf unter der Erde, Beschneiungsanlagen bringen den Wasserhaushalt aus dem Gleichgewicht; solche und andere Einwirkungen des Wintertourismus beschädigen und entwerten wichtige Lebensräume der alpinen Fauna und Flora.
Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die neue Gletscherbahn auf der Lauchernalp im Lötschental. Verloren gehen bei solchen Projekten aber nicht nur unberührte oder artenreiche Lebensräume, sondern auch landschaftliche und kulturelle Werte, die sich nur schwer in Zahlen fassen lassen. Was ist der Blick auf unberührte Gipfel wert?
2 von 3 kommen im Auto
Auch die indirekten Auswirkungen des alpinen Massentourismus sind folgenschwer. Zwei von drei Gästen reisen mit dem Auto in die Berge - und lassen so die Konzentration des Treibhausgases CO2 in die Höhe klettern. «Mit diesem Beitrag zum Klimawandel gefährdet der alpine Massentourismus seine eigene Existenzgrundlage», sagt dazu Priska Hänni vom Alpenbüro Netz, einem Zusammenschluss von Fachleuten, die die Entwicklung im Alpenraum in nachhaltige Bahnen lenken wollen.
Tatsächlich bringen die stetig steigenden Temperaturen die Tourismusbranche mehr und mehr ins Schwitzen. Während heute Skigebiete ab 1200 Meter über Meer als schneesicher gelten, wird sich diese Grenze in den nächsten dreissig Jahren bei einem prognostizierten Temperaturanstieg um 2 Grad um 300 Höhenmeter nach oben verschieben. Von den insgesamt 230 Skigebieten der Schweiz gelten dann nur noch 144 als schneesicher. Heute sind es deren 195.
Der zunehmend fehlende Schnee in tieferen Lagen lässt viele Bergbahnfirmen die Flucht nach oben antreten - koste es, was es wolle. Im Sommer 2003 etwa haben die Sportbahnen Airolo TI 15000 Quadratmeter alpine Vegetation verbotenerweise planiert.
Auf der Engstlenalp beispielsweise wurde eine Alphütte ohne Bewilligung umgebaut - das sei die Vorbereitung eines Restaurantbetriebs, vermutet die Berner Oberländer Sektion von Pro Natura. Sie hat deshalb Anzeige erstattet.
Behörden drücken Auge zu
Pikant: In der Vergangenheit haben die Behörden in ähnlichen Fällen wiederholt beide Augen zugedrückt - und ernten dafür Kritik. «Es geht nicht an, dass mit staatlichem Segen wertvolle Naturräume zerstört werden», beanstandet Andreas Weissen, Präsident der Internationalen Alpenschutzkommission Cipra, die lasche Haltung der Behörden. Sein Appell ist in den Bergregionen ungehört verhallt. Bereits werden Erinnerungen an den Bauboom der 70er-Jahre wach, als zwei Drittel der heute bestehenden Anlagen gebaut wurden.
Im Gegensatz zu den Umweltorganisationen erwartet das Bundesamt für Verkehr in den nächsten Jahren keine Erschliessungseuphorie. «Heute geht es vor allem um die Frage, wie bestehende Anlagen überleben können», sagt Pressesprecher Davide Demicheli.
Ähnliche Töne schlägt der Verband Seilbahnen Schweiz an. «Die Ertragslage vieler Seilbahnfirmen erlaubt schlicht keine neuen Investitionen», stellt Pressesprecher Felix Maurhofer klar. Es stünden zwar diverse Projekte zur Diskussion, was aber noch lange nicht heisse, dass diese auch realisiert würden. Maurhofer: «Dass sich aber einige finanzstarke Stationen gewisse Optionen offen halten wollen, dürfte angesichts der volkswirtschaftlichen Bedeutung der Seilbahnunternehmen verständlich sein. »u
BZ-Kanton Bern, 18. März 2004
mich würde eure Meinung zu diesem Medienbericht aus der Berner Oberland Zeitung interessieren
