Manche hier im Forum sind vermutlich ziemlich häufig auf dem Fahrrad anzutreffen, ich schaue mir ehrlicherweise öfter Velorennen im TV an als dass ich selber auf den Sattel steige. Trotzdem war die Idee einer Passfahrt schon seit längerer Zeit vorhanden, nun sollte sie umgesetzt werden. Wenn schon sollte es auch ein echter Pass sein, einer über den Alpenhautpkamm. Da bot sich zwangsläufig der San Bernardino an, denn dank der Fernverkehrsstrasse ist die eigentliche Passstrasse fast gänzlich vom Verkehr befreit. Ausserdem führt die Route 6 von Veloland CH über den San Benardino, weshalb über die ganze Strecke hinweg ein Veloweg markiert ist.
Bei Hin- und Rückreise am gleichen Tag war es mir zu mühsam, das eigene Bike immer mitzuschleppen, deshalb entschied ich mich, nach der Anfahrt über Zürich und Chur bei der "Rent a bike"-Station am Bahnhof Thusis ein Fahrrad zu mieten, welches ich abends in Bellinzona abgeben konnte. Es dürfte an der Natur der Sache liegen, dass man da kein Top-Velo erwarten kann, dennoch ist dies ein willkommener Service. Trotzdem ungewöhnlich, sich mit einem City-Bike auf eine längere Tour zu begeben. 100km zwischen GR und TI, von Thusis bis Bellinzona, total 1500 Höhenmeter sind die Hard Facts, doch mich interessierte mehr das Befahren verschiedener Landschaften und Höhenzonen, die 3 zu querenden Sprachregionen, oder auch einfach mal die Gelegenheit, den Kopf "durchzulüften". Verständlicherweise legte ich das Augenmerk dabei aber nicht auf das Fotographieren.
Nach kurzem Einkauf in Thusis gings dann um Viertel nach Neun auch endlich los und gleich rein in erste steile Rampen. Ein mulmiges Gefühl befiel mich beim Befahren der verschiedenen Tunnels rund um die Via Mala Schlucht. Unglaublich, wie viel Lärm da ein einziges Auto infolge Schallreflexion produzieren kann. Dann die erste Ebene im Val Schons mit seinen wunderbar erhaltenen Dörfern Zillis und Andeer. Besonders letzteres gefiel mir mit seinen verwinkelten Gässchen und dem allgegenwärtigen Kopfsteinpflaster.
RhB Bahnhof Thusis, Startpunkt auf 697 m.ü.M.
Tiefen der Via Mala
einer der vielen Tunnels auf den ersten Kilometern
weiterer Verlauf der Schlucht
im Val Schons bei Zillis
im Dorfkern von Andeer
Da die A13 während grossen Teilen in Tunnels geführt wird, hielt sich die Lärmbelastung sehr in Grenzen. Dabei sorgte auch die leichte Bewölkung stets für Temperaturen im angenehmen Bereich. Stetig gings bergauf, mal steiler, mal flacher, während der Durchfahrt der Rofla-Schlucht die ersten Serpentinen. Mit dem Stauwehr des Sufnersees erschien das erste Tagesziel ziemlich überraschend nach einem längeren Waldstück. Zeit für eine kleinere Rast in idyllischer Umgebung. Das Rheinwaldner Hochtal ist für mich sowas wie das kleine Engadin - dank dem Stausee und den lichten Nadelwäldern.
Rofla-Schlucht
auf dem Stauwehr des Sufnersees (1415 m.ü.M.)
nochmals der Sufnersee, der sich schön in die Landschaft einfügt
das Mietfahrrad, naja...
Blick auf die Gondelbahn ins Skigebiet Splügen - offenbar ohne Sommerbetrieb
das dreisprachige Patrizierdorf Splügen mit seinem wunderbar erhaltenen Ortskern
Ich hatte keine Lust auf kilometerlanges Fahren mit 5 Metern Seitenabstand zur A13 und folgte deshalb nicht der eigentlichen Strasse, sondern dem markierten Fahrweg. Bereits zuvor beim Sufnersee führte dieser auf einem Schotterweg dem Südufer entlang, und nun sollte es doch recht heftig werden. Einerseits giftige Zwischensteigungen am Nordhang mit anschliessenden Abfahrten, andererseits der Saumpfad zwischen Medels und Nufenen. Landschaftlich zwar eine Wucht, doch Pfützen, Schlaglöcher, steinige Anstiege und gar einige Bachdurchquerungen waren definitiv nicht die geeignete Unterlage für das ungefederte City-Bike (und dessen Kette...) und zehrten folglich an den Kräften.
zwischen Medels und Nufenen im Rheinwald
immer den roten Pfeilen der Route 6 nach... Dank der vorbildlichen Beschilderung verfuhr ich mich kein einziges Mal.
Nufenen, politischer Hauptort des Hochtals
einer der Abschnitte parallel zur A13
Nordportal San Bernardino auf 1610 m.ü.M., dahinter ist die Passstrasse erkennbar
Rund um Hinterrhein herrschte eine ziemlich düstere Stimmung - die Berggipfel waren von den Wolken verdeckt, die üblichen militärischen Schiessübungen bildeten dazu den Soundtrack. Ein letztes Mal Wasserflaschen auffüllen (am Dorfbrunnen), Rucksack anziehen und auf gings. Besonders die vergangenen Kilometer auf dem Schotterweg waren nun immer stärker in den Beinen zu spüren. Total 25 Kehren zählt die Nordrampe, die Meter für Meter anstrengender wurde. Die Fahrt entwickelte sich zum Kampf gegen die schmerzenden Beine. Zeit hatte ich genug, so gönnte ich mir bei einer Aufhellung ein Sonnenbad auf einer Steinmauer. Gegen Ende des Anstiegs wurde die Strasse nach und nach flacher, die Umgebung karger, bis schliesslich die Scheitelhöhe doch noch erreicht war und sich eine gewisse Freude breit machte.
Scheitelsee auf der Passhöhe des San Bernardino (2065 m.ü.M.)
das etwas baufällige Ospizio auf der Wasserscheide
Beginn des kilometerlangen Kurvenlabyrinths der Passstrasse
Sprechen wir sonst von Pistentrassierungen, sei hier die geniale Strassentrassierung der Südrampe erwähnt. Das kilometerlanges Kurvengeschlängel, das weit mehr als 1000 Höhenmeter in die Tiefe führt, machte echte Spass zum Runterbrettern, mit Ausnahme der bitteren Gegensteigung beim Dorf San Bernardino. Auch im Misox - eines der 5 Bündner Südtäler - war wieder ein Fahrweg abseits der Strassen markiert, dieses Mal allerdings ein asphaltierter. Passend zur mediterranen Umgebung wurde es heisser und heisser, die 30°C sorgten für Schweiss... Nun zeigte sich, dass das Mietvelo so seine Tücken hatte; der Sattel rutschte immer wieder nach unten und provozierte so mehrere Zwischenstopps.
Südportal des Strassentunnels
Dorf San Bernardino
Einfahrt ins Misox
Mesocco an der Südrampe des Passes
einer der vielen Wasserfälle im Misox
Blick zurück nach Roveredo, dem Schweizer Glutofen
endlich Tessin!
Nochmals kam ein längeres Stück Schotterweg zur Umfahrung der hier stark befahrenen Strassen. Dann endlich war Bellinzona auf gerade mal 230 NN erreicht, mehr als 50 km von der Passhöhe entfernt und in völlig anderem Ambiente. Fahrrad abgeben, waschen, umziehen, Nachtessen am Bahnhofskiosk kaufen und ab in den 19:00-Zug. Über den San Bernardino kam ich in den Süden, über den Gotthard sollte es zurückgehen. Infolge Tiefschlafs bemerkte ich davon aber nicht mehr allzuviel...