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16. Februar 2004
14:00 Auf den Berg wie im Flug
Innsbrucks Nordkettenbahn, ein herausragendes Beispiel alpiner Tourismusarchitektur, feiert ihr 75-Jahr-Jubiläum
Tipps:
Innsbrucker
Nordkettenbahnen
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tirol.com ;
Roland Kubanda (Hrsg.):
"Stadtflucht 10 m/sec". Innsbruck und die Nordkettenbahn. Beiträge zum 75-Jahr-Jubiläum. (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs, Neue Folge, Bd. 29). StudienVerlag, Innsbruck/ Wien/ München/ Bozen 2003.
Joachim Moroder, Benno Peter: "Hotelarchitektur. Bauten und Projekte für den Tourismus im alpinen Raum 1920- 1940", Haymon-Verlag, Innsbruck 1993.
Karl Lukan: "Schneeberg und Rax. Hochgebirge für jedermann", Verlag Anton Schroll & Co, Wien 1978.
Mit der Entwicklung der Seilschwebebahnen rückten die Gipfel mit einem Schlag ganz nah an die Stadt. Innsbrucks Nordkettenbahn, ein herausragendes Beispiel alpiner Tourismusarchitektur, feiert ihr 75-Jahr-Jubiläum.
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Das Staunen kannte keine Grenzen: "Neugier aller Grade" wurde verspürt, "ein Höhenfieber" und "das Gefühl des Schwebens, des Fliegens". So beschrieb ein Begeisterter vor 75 Jahren seine erste Fahrt mit der gerade eröffneten Seilschwebebahn von Innsbruck aufs Hafelekar. Und er vergaß dabei nicht zu vermerken, um wie viel ungetrübter die Freude war, als "wenn wir nun zu Fuß die steilen, kniebeißenden Steiglein zur Höhe geschnauft wären".
Mit einem Schlag war die Stadt damals in die Vertikale explodiert. Die Nordkette, die Innsbrucks Maria-Theresien-Straße um fast 1800 Höhenmeter überragt, war nicht länger nur eine imposante Kulisse, sondern wurde plötzlich ein Teil der Stadt, der sofort freudig in Besitz genommen wurde: als Aussichtspunkt mit einem überwältigenden Panoramablick, als Sonnenbad, vor allem aber als Sportplatz. Diese Verbindung von Großstadt und Hochgebirge ist in Europa einzigartig. In keiner anderen Stadt ist es möglich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln in wenig mehr als einer halben Stunde auf fast 2300 Meter Seehöhe zu gelangen.
Begonnen hatte die Eroberung des Hochgebirges mithilfe mechanischer Aufstiegshilfen schon tief im 19. Jahrhundert. 1871 bauten die Schweizer eine Zahnradbahn auf den 1798 Meter hohen Aussichtsberg Rigi, weitere Bahnen folgten. Auch in Innsbruck gab es schon 1906 nach der Eröffnung der Standseilbahn auf die Hungerburg Pläne, diese zur Seegrube und zum Hafelekar zu verlängern.
Die erste auf Seilen schwebende Gondelbahn der Welt
1908 wurde dann in Bozen in Südtirol die erste nicht auf Schienen fahrende, sondern auf Seilen schwebende Gondelbahn der Welt, die Kohlernbahn, gebaut, der noch im selben Jahr der "Wetterhornaufzug" in der Schweiz, ebenfalls eine Schwebebahn, folgte. Die neue, einfachere und kostengünstigere Technik wurde nach dem Ersten Weltkrieg rasch weiterentwickelt.
1926 wird als erste österreichische Seilschwebebahn jene auf die Rax in Niederösterreich und noch im selben Jahr die Pfänderbahn in Bregenz eröffnet. 1927 sind die Nordketten- und die Patscherkofelbahn in Innsbruck an der Reihe, und 1928 die Hahnenkammbahn in Kitzbühel.
Überall war man bemüht, das Gebirge möglichst vom Stadtzentrum aus zu erschließen, und auch bei der Raxbahn warb man mit dem Slogan "In zwei Stunden von Wien im Hochgebirge". Auch einer der ersten Raxbefahrer äußerte sich enthusiastisch: "Das lautlose Hinaufgleiten an dem hohen, steilen Gebirgshang erzeugt das wonnige Gefühl des Fliegens, ohne dass der Gedanke der Unsicherheit im Geringsten aufkommt."
Technik beflügelte die Fantasie der Architekten
Die Technik des Seilbahnbauens beflügelte auch die Fantasie der Architekten, die vor einer völlig neuen, von keinerlei Tradition belasteten Aufgabe standen. Das utopischste Projekt dachte sich dabei der Mailänder Giovanni Ponti Anfang der Dreißigerjahre aus: eine Seilbahnverbindung von Bozen bis nach Cortina, 160 Seilbahnkilometer plus infrastrukturelle Einrichtungen wie Hotels, Schutzhütten, Restaurants, Geschäfte, Ski- und Kletterschulen, alles in einem einheitlichen Styling. Ein nie umgesetzter Plan, fantastischer als alles, was je in den Alpen gebaut wurde.
Weit realistischer ging da der Architekt der Innsbrucker Nordkettenbahn ans Werk. Franz Baumann, Sieger eines Wettbewerbs, in dem gefordert war, "einen modernen Zweckbau mitten in die Felsenwildnis zu stellen", entwarf die Talstation Hungerburg, die Mittelstation Seegrube und die Bergstation Hafelekar in klaren, einfachen Formen mit den im Hochgebirgsklima bewährten Materialien Holz, Stein und weißem Kalkputz.
Baumanns Schlüsselensemble alpiner Tourismusarchitektur - den Höhepunkt stellt die Verbindung von Seilbahnstation und Panorama-Hotel-Restaurant auf der Seegrube dar - wurde von ihm bis in die Details wie Sessel, Leuchten, Türschnallen und sogar Schrifttyp für die Fassadenbeschriftungen selbst gestaltet und stellt damit nach Meinung von Kunsthistorikern ein noch nicht genügend gewürdigtes Beispiel von regionalem Art déco dar.
Der Seilbahnhang - die buckligste Buckelpiste der Welt
Vor diesem Hintergrund pflegten seit der Eröffnung der Nordkettenbahn mittlerweile vier Generationen ihre sportlichen und gesellschaftlichen Rituale: Wurde in den Dreißigerjahren hinter dem Hotel Seegrube noch Ski gesprungen, so verwandelten in den Fünfzigern und Sechzigern die "Wedler" den Seilbahnhang in die buckligste Buckelpiste der Welt, während sich immer Mutigere in immer steileren Steilrinnen vom Hafelekar herunterwagten. Firngleiten, Snowboarden, Drachenfliegen, Klettersteigklettern und Mountainbiken folgten.
Seilschwebebahnen gehören inzwischen, ebenso wie übrigens die Schlepplifte, zu den aussterbenden Arten unter den Aufstiegshilfen. Einseil-Umlaufbahnen mit Gondeln bis zu 24 Personen oder windgeschützte Achtersessellifte ("Bubbles") garantieren höhere Beförderungskapazitäten. Die Nordkettenbahn verzeichnet seit Jahren sinkende Beförderungszahlen, und die Touristiker behaupten, die Talstation liege zu weit vom Stadtzentrum entfernt (zehn Minuten Straßenbahnfahrt oder 20 Minuten Spaziergang), um für Touristen attraktiv zu sein.
Sie fordern eine Gondelbahn, direkt von der Altstadt weg. Dagegen hat sich bisher erfolgreich die Innsbrucker Bevölkerung (angeführt vom Künstler Paul Flora) gewehrt, die in der dringend renovierungsbedürftigen Nordkettenbahn ein Stück Stadtidentität sieht. Im Jubiläumsjahr ruht die Diskussion, nächstes Jahr wird sie weitergehen. (DerStandard/rondo/Horst Christoph/12/12/03)